„… und vergib uns unsere Schuld."

30.11.2012
Franz Segbers (in: amos 45)

Im kulturellen Gedächtnis der Menschheit: Der Schuldenerlass

Es gibt eine Jahrtausend alte Tradition, die bis nach Mesopotamien zurückreicht und auch in der Bibel zu finden ist. Die Bibel stammt aus einer uns fremden Welt. In ihr war die Ökonomie selbstverständlicher Teil einer umfassenderen Lebenswelt. Nicht die Gesellschaft war der Ökonomie unterworfen, sondern die Ökonomie war Teil des Lebens.

Christen, Juden und Muslime stehen in einer Jahrhunderte alten Tradition eines Schuldenerlasses. Wenn sie diese Tradition in Erinnerung rufen, dann demaskieren sie menschenverachtende Verschuldungskrise.

Die sozialen Errungenschaften von Athen über Madrid bis Lissabon werden in Frage gestellt, Löhne und Renten werden gekürzt, Staatsbedienstete entlassen, Tarifverträge zerschlagen und reguläre Beschäftigung entsichert, damit die Finanzmärkte zufrieden sind - sonst droht Ungemach. Während in Griechenland der ungeliebte Sozialstaat zerstört wird, konstatierte der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, im Wallstreet Journal: „Das Sozialstaatsmodell hat ausgedient. Oberstes Ziel muss es sein, das Vertrauen der Finanzmärkte wieder herzustellen." (22.2.2012) Mario Draghi versteht also die sog. Schuldenkrise als Hebel für einen europäischen Systemwechsel, sich vom Sozialstaat und seinen zivilisatorischen Errungenschaften loszusagen. Was in Griechenland passiert, geschieht exemplarisch für das gesamteuropäische Projekt einer sozialstaatlich unterlegten Demokratie. Draghi macht einen Reihenfolge deutlich: Vorrang gegenüber der Demokratie hat das „Vertrauen der Finanzmärkte". Gegenüber dem „Vertrauen der Finanzmärkte" sollen Sozialstaat und Demokratie zurücktreten. Sich an diesem Ziel unbedingt anzupassen gilt als vernünftige Politik. Erschüttert ist das „Vertrauen an die Finanzmärkte" dadurch, dass diese einen Verlust ihrer Guthaben befürchten. Sie konnten bislang ihr Vermögen durch Staatsanleihen und Verschuldung Griechenlands mehren. Deshalb heißt „Vertrauen in die Finanzmärkte" in der Sache, dass die bisherige Politik der Vermögensvermehrung weiterhin oberstes und einziges Ziel bleiben soll.

Die Finanzmärkte sind keineswegs Millionen einzelne Marktakteure sondern vielmehr institutionelle Anleger wie Hedgefonds oder Pensionsfonds, die eine ökonomische und politische Macht entwickeln. Sie bildet eine Finanzoligarchie, welche die derzeit herrschende Weltmacht darstellt. So stellt die us-amerikanische Bank Goldman Sachs mittlerweile in Europa einige führende Politiker: Mario Draghi, der Präsident der EZB, der frühere griechische Präsident Papademos und der italienische Präsident Monti. Der jetzige us-amerikanische Finanzminister war Mitarbeiter von Goldman Sachs. Und es sei daran erinnert, dass es die Bank Goldman Sachs war, die Griechenland dabei geholfen haben soll, einen Teil seiner Staatsschulden zu verschleiern, um überhaupt in den Euroraum aufgenommen zu werden. Man kann also dem „Handelsblatt" nur beipflichten, das in einem Kommentar zur Berufung von Papademos von einem „stillen Putsch" spricht, denn

nun „bekommen die Finanzmärkte, was sie wollen" (Handelsblatt 16.11.2011). Finanztechnokraten wurden eingesetzt, nachdem Griechenlands Premier es gewagt hatte, ein Referendum zu stellen und man Erfahrungen mit einem Referendum in Island hatte. Finanzmärkte mögen keine Demokratie und Beteiligung der Menschen, die für den Schuldendienst einstehen müssen.

„Geierfonds"

Um ausstehende finanzielle Schulden einzutreiben, wurden Menschen in der Antike versklavt oder in Schuldknechtschaft gesteckt. Heute wird der Zwang nicht weniger unerbittlich ausgeübt. Da gibt es sog. „Geierfonds", die mit äußerster Brutalität Geschäfte mit dem Elend ganzer Staaten machen: So der amerikanische Hedgefond Donegal, der 1999 einen 15 Mio. Dollar Kredit, den das bitterarme Land Sambia zu tragen hatte, aufgekauft hatte. Der Fond erwarb den Kredit zu einem Spotpreis von 3 Mio. Dollar, klagte Tilgung, Zinsen und Verzugszinsen in der Höhe von 55 Mio. Mio. Dollar ein. Am Ende wurde aus der Kaufsumme von 3 Mio. Dollar ein menschenverachtendes Geschäft, das 17 Mio. Dollar erbrachte. Was Geierfonds für Afrika erledigen, vollzieht die Troika aus EZB, Währungsfond und Europäischer Kommission – nur mit feineren Mitteln. Doch Griechenland wird nicht weniger unerbittlich in bittere Armut gestürzt, nur damit die Schulden bezahlt werden. In Griechenland breiten sich weiter Hunger und Verzweiflung aus. Renten werden gekürzt, Löhne abgesenkt, das Gesundheitswesen zurückgefahren. Der Mindestlohn und die Arbeitslosenunterstützung werden drastisch gekürzt. Die 73 Milliarden Euro Hilfskredite, welche die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) nach Griechenland überwiesen haben, dienen zu nichts anderem als zur Bedienung der Kreditgeber, die außerhalb Griechenlands sitzen. Gerettet werden die Banken. Weder Europa noch Bürger Europas profitieren – so der deutsche Ökonom Max Otte – sondern die Banken. Schuldenrückzahlung bekommt den Rang eines Menschenrechts. Das meint jedenfalls ein Hedgefond, der laut der New York Times vom 19. Januar 2012, gegen einen Teilschuldenerlass beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg mit der Begründung klagen will, da die Menschenrechte der Anteilseigner verletzt würden.

Schuldnerberater wissen zu berichten, wie es auch Privatschuldnern geschehen kann, wenn eine ursprüngliche überschaubare Verschuldungssumme durch Zinsen, Mahngebühren, Verzugsschulden und Inkassogebühren sich um ein mehrfaches erhöhen kann. Fragen wir also: Warum sind Bürger und Staaten innerhalb Europas so unerbittlich gegeneinander, gerade wenn es um die Schuldenrückzahlung geht? Wie kommt es, dass die Schulden alle moralischen Bedenken verdrängen können und ein Verhalten legitimieren kann, das ansonsten ethisch völlig inakzeptabel ist?

Der amerikanische Soziologe David Graeber ist den Schulden in der Geschichte nachgegangen und hat herausgefunden, dass der Kampf um die Rückzahlung von Zinsen im Grunde immer ein Kampf zwischen Arm und Reich ist. In einer Gesellschaft, die in Arm und Reich gespalten ist, müssen die einen sich verschulden, um überhaupt überleben zu können, und die anderen sind reich genug, Geld zu verleihen – und profitieren davon. Schulden spiegeln also im Grunde den Konflikt zwischen Arm und Reich wider als Konflikt zwischen Schuldnern und Gläubiger, der jedoch moralisch als eine einzulösende Schuld verdeckt wird. Wer diese Schuld nicht einlöst, der macht sich schuldig. Der Arme steht in Schuld der Reichen. Wer Geld verleiht, der tut dies nicht als Wohltäter und uneigennützig. Er verfolgt dabei Eigeninteresse. Ohne die Verschuldung der Armen könnte er nämlich seinen Reichtum nicht mehren. Doch genau dieser Sachverhalt wird umgedeutet und unsichtbar gemacht.

Doch ein Staatshaushalt funktioniert aber gerade umgekehrt: Geldvermögen der einen sind immer Schulden der anderen. Verschuldung der einen ist das Spiegelbild der Vermögen der anderen. Mit der Begriffsbildung „Staatsschuldenkrise" wechselten die Schuldigen. Die Staaten, welche die Banken gerettet hatten, sind nun die Schuldigen und die Banken, welche die Krise erzeugt hatten, sind aus dem Blickfeld. Jetzt heißt es, dass die Staaten mit den Bürger die Schuldigen sind, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten.

Schulden und Guthaben sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Der Kreditgeber braucht den Schuldner, denn ohne ihn könnte er sein Vermögen nicht vermehren.

Deshalb ist auch die Ausdehnung von Schuldverhältnissen und nicht die Tilgung von Schulden das systemische Ziel der Finanzoligarchie. Der Schuldenspirale der Schuldner entspricht deshalb auch eine Vermögensspirale auf Seiten der Gläubiger. Sie müssen nämlich für die fortwährende Vermögenssteigerung zusätzliche und fortwährende Verschuldung der Schuldner durchsetzen, die diese in eine Schuldenspirale gefangen hält.

Was Schuldenkrise genannt wird, ist keine Krise der Schuldner sondern eine Krise der Finanzoligarchie, die darin besteht, dass die Vermehrung ihres Vermögens in die Krise gekommen ist. Deshalb sollen nun die Bürgerinnen und Bürger mittels Rettungsschirmen, Haushaltskürzungen, Schuldenbremsen oder Fiskalpakt an die Finanzoligarchie zahlen, damit der Prozess der Vermehrung der Vermögen in Gang bleibt. Das Vermögen der Finanzoligarchie soll gerettet werden zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger.

Die neoliberale Steuersenkungsmanie hat die Einnahmen des Staates reduziert und die Staatsaufgaben durch Verschuldung bei denen finanziert, denen der Staat zuvor die Steuern gesenkt hat. So verwundert es nicht, dass die Staaten auf private Banken und Finanzinstitute angewiesen sind, ihre Ausgaben zu finanzieren, da sie diese nicht durch Steuereinnahmen begleichen können. Schulden türmen sich auf, wenn Einnahmen und Ausgaben sich nicht im Gleichgewicht befinden.

Folgerung für eine Geldwirtschaft, die dem Leben dient

Schulden entstehen nicht, weil die „Griechen zu faul sind" (BILD-Zeitung) oder wir „über unsere Verhältnisse leben" (A. Merkel). Der Kapitalismus braucht die Verschuldung und kann ohne Verschuldung das Vermögen nicht vermehren. Da offensichtlich Verschuldung nicht nur erwünscht ist, sondern ein notwendiger Bestandteil des destruktiven Finanzkapitalismus ist, sollte sich niemand ethisch schuldig fühlen, wenn er verschuldet ist.

Das Wachstum der Schulden ist notwendig, damit sich Vermögen überhaupt vermehren kann und ist keine private Schuld, die auf ein Versagen von Schuldnern zurückgehen würde, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Der einzelne, überschuldete Mensch steht genauso vor einem riesigen, unüberwindbaren Schuldenberg wie die Staaten.

Die Politik steht deshalb in Verantwortung für eine Finanzarchitektur ...

Erst ein Schuldenerlass würde diejenigen, die tatsächlich schuld an der Verschuldung sind und an der Verschuldung profitiert haben, in Pflicht nehmen. Die Auseinandersetzung um die Verschuldung ist ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen. Wir wissen um die Würde des Lebens der Menschen und halten denen, die die kulturelle, ja zivilisatorische Errungenschaft des Sozialstaates opfern wollen, eine Befreiungstradition entgegen. Wir haben etwas zu verteidigen: Den Schutz der Menschen und besonders der Armen vor den Stürmen des entfesselten Kapitalismus.

Um der Gerechtigkeit willen brauchen wir diese Revolution, an die uns auch die Bibel erinnert. Deshalb ist es Zeit, an die alte Weisheit der Religionen zu erinnern und einen Schuldenerlass zur Entschuldung der Verschuldeten durchzuführen.

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Text erschienen in: amos. 45 Jg., Heft 3/2012, 10f.

Langversion hier zum Download sowie auf der Website von Franz Segbers!