Bundestagsabstimmung über Griechenland

Zur Absurdität einer innerdeutschen Debatte

19.07.2015
Jürgen Klute

Die Diskussion, welche Haltung die Linksfraktion im Bundestag einnehmen sollte, ist alleine der Logik des deutschen Politikbetriebs gefolgt. Die Opposition grenzt sich von der Regierung ab. Das Dilemma, in die diese Abstimmung führt, verweist aber auf ein tiefer liegendes Problem: Auf die Fragwürdigkeit des ganzen Abstimmungsverfahrens über die Krisenpolitik in der EU. Ein Beitrag für Freitag.de

Nach einer intensiven Debatte hat der Bundestag in einer Sondersitzung am 17. Juli 2015 dem Bundesfinanzminister das Mandat erteilt, Verhandlungen über ein drittes EU-Hilfspaket für Griechenland zu führen. Allerdings haben 65 CDU/CSU-MdB ihre Zustimmung zu diesem Mandat verweigert. Der CDU-Koalitionspartner SPD stimme fast geschlossen dem entsprechenden Antrag des Bundesfinanzministers zu (175 Ja- und 4 Neinstimmen). Die Linksfraktion im Bundestag hat fast geschlossen mit Nein gestimmt (53 Neinstimmen, 2 Enthaltungen). Die Grünen haben sich überwiegend enthalten (23 Ja-, zwei Nein-Stimmen, 33 Enthaltungen). Zudem haben die Grünen eine Alternativantrag zu dem des Finanzministers zur Abstimmung in den Bundestag eingebracht.

Für die Linksfraktion ist diese Abstimmung eine heikle Angelegenheit gewesen. Sie hätte mit Ja stimmen können. Mit einem Ja wäre sie dem griechischen Parlament gefolgt und auch dem Willen des linken griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras. Und sie hätte mit einem Ja dem Willen von gut 80% der Griechinnen und Griechen entsprochen, dass Griechenland weiterhin im Euro-Raum bleibt. Die Linksfraktion hätte damit deutlich gemacht, dass sie gegen einen Grexit ist, der ein noch größeres Elend über Griechenland brächte als die Bedingungen für ein drittes Hilfspaket. Andererseits sind aber schon die Bedingungen für ein drittes Hilfspaket von einer Art, dass sie aus linker Sicht nicht akzeptabel sind. Die extrem harten Bedingungen, die der Regierung von Alexis Tsipras aufgezwungen wurden, können außerdem als eine Warnung an die spanischen Wähler und Wählerinnen interpretiert werden, bei der Parlamentswahl im September keine linke Mehrheit zu wählen. Dem kann eine Linksfraktion schlicht nicht zustimmen.

Die nächste Option wäre eine Enthaltung. Eine Enthaltung erweckt aber schnell den Eindruck man hätte keine Position in dieser politischen Auseinandersetzung. Für eine Oppositionspartei wäre das nicht gerade profilschärfend. Außerdem haben die Grünen im Bundestag diese Option gekoppelt mit einem Alternativantrag besetzt.

Politisch korrekt kann man folglich nur mit Nein stimmen – oder? Oberflächlich betrachtet: ja. Bei Licht betrachtet ist aber auch ein Nein problematisch und es gibt gute Gründe, die auch gegen ein Nein sprechen.

Ein erster Grund gegen ein Nein: Hätte der Bundestag mehrheitlich mit Nein gestimmt, dann gäbe es kein drittes Hilfspaket für Griechenland. Und auch den linken MdB ist klar, dass ein Grexit in dem Fall wohl nicht mehr zu verhindern gewesen wäre. Ein Grexit würde ein noch weitaus größere Elend für die nächsten Jahre bedeuten, als die Bedingungen für ein drittes Hilfspaket. Alexis Tsipras hat sein Ja zu den Bedingungen genau damit begründet, dass es für ihn nicht akzeptabel sei, dass eine Linke Regierung ein Land in das Elend führt, das ein Grexit nach sich ziehen würde. Gregor Gysi hat in seiner Rede jedenfalls gesagt, dass er in Griechenland dieser Einschätzung von Tsipras gefolgt wäre und in seinem Sinne abgestimmt hätte, wenn auch schweren Herzens. In der Abstimmung im Bundestag ginge es aber darum, der Krisenpolitik von Merkel und Schäuble ein Nein entgegenzusetzen.

Das Problem ist, dass die Haltung der Linksfraktion der Logik des deutschen Politikbetriebs folgt. Die Opposition grenzt sich von der Regierung ab. Durchaus mit guten Gründen. Sie kann das aber nur tun, weil sie weiß, dass ihr Nein die Zustimmung zum Verhandlungsmandat (wohlgemerkt: es ist keine Abstimmung über ein konkretes Hilfspaket gewesen, sondern erst einmal über ein Verhandlungsmandat) nicht gefährdet. Andernfalls würde sie ein Elend billigend in Kauf nehmen, dass Alexis Tsipras und der größere Teil der SYRIZA-Fraktion im griechischen Parlament um jeden Preis verhindern wollten. Die Linksfraktion kann sich also nur deshalb als Oppositionspartei treu bleiben, weil ihr Nein im Blick auf das Abstimmungsergebnis bedeutungslos ist. Sie muss sich deshalb auch nicht sonderlich mit der schwierigen Lage der Schwesterpartei SYRIZA auseinandersetzen, sondern kann ganz bei sich selbst bleiben und bei der zwangsläufigen Logik des deutschen Politikbetriebs. Einer ernsthaften Zusammenarbeit auf EU-Ebene ist das allerdings nicht gerade zuträglich.

Ein zweiter Grund gegen ein Nein: Ein Nein hätte ziemlich sicher zu einem – zumindest temporären – Grexit geführt. Also zu genau dem Ergebnis, für das Schäuble nach wie vor eintritt und mit ihm eine beachtliche Zahl MdB aus der Regierungskoalition. Da es in dieser Frage offenbar auch eine Differenz zwischen Merkel und Schäuble gibt, richtet sich das Nein faktisch mehr gegen Merkel als gegen Schäuble. Weiterhin nimmt man mit dem Nein in Kauf, dass die Abgrenzung zu allen anderen Verfechtern eines Grexit schwierig wird, wie z.B. der AfD und Werner Sinn vom Münchener IfO-Institut. Dass Oskar Lafontain sich vor wenigen Tagen in einem Spiegel-Interview auch noch für einen Grexit ausgesprochen hat, macht es noch komplizierter. Im Dunstkreis von Stammtischen, an denen Differenzierungen und Details naturgemäß keine Rolle spielen, wird das Nein der Linksfraktion schnell als Bestätigung der Position von Schäuble und Co. interpretiert. Denn dort wird nur geschaut, wer für und wer gegen ein Hilfspaket für Griechenland gestimmt hat und daraus werden dann munter Argumente zur Unterstützung der eigenen Ressentiments konstruiert. So wird die Linksfraktion unfreiwillig für manch einen zum Kronzeugen für eine Position, die sie nicht einnehmen will und die sie auch nicht einnehmen wollen kann.

In dieser Gemengelage gibt es also kein einfaches Richtig oder Falsch.

Das Dilemma, in die diese Abstimmung führt, verweist auf ein tiefer liegendes Problem: Auf die Fragwürdigkeit des ganzen Abstimmungsverfahrens über die Krisenpolitik in der EU.

Die Abstimmung im Bundestag folgt im wesentlichen den innerdeutschen Debatten und Interessen. Und das (politisch gewollte) Abstimmungsergebnis muss als im deutschen Interesse liegend darstellbar sein. Das gilt natürlich auch für die anderen EU-Länder, deren Parlamente über die Krisenpolitik abstimmen müssen – es ist aber nur eine Minderheit von Ländern, in denen das der Fall ist, und dazu auch noch mit unterschiedlicher Bindungswirkung.

Zwangsläufig spielen in solchen Abstimmungen die Interessen der betroffenen Länder – in diesem Fall Griechenlands – und EU-Perspektiven bestenfalls eine untergeordnete Rolle. So kommt es also dazu, dass im Bundestag über die Lebensbedingungen von griechischen Bürgerinnen und Bürgern abgestimmt wird, ohne dass diese den Bundestag mitwählen können und ohne dass deren Interessen Berücksichtigung finden. Das ist ein veritables Demokratiedefizit, ein Skandal.

Dieses Demokratiedefizit der Europäischen Union wäre bei vorhandenem politischen Willen recht einfach zu lösen: Die Abstimmungen über alle Maßnahmen im Zuge der EU-Krisenpolitik müssen im Europäischen Parlament abgestimmt werden. Das Europäische Parlament ist die einzig demokratisch legitimierten Institution der EU und in ihm sind Vertreter aller EU-Mitgliedsstaaten aus jeweils verschiedenen politischen Parteien vertreten und nicht nur die Vertreter der politischen Mehrheit, wie es im EU-Rat der Fall ist.

Nur so kann gewährleistet werden, dass Abstimmungen, wie z.B. über die Hilfspakete für Griechenland, der Logik der nationaler Interessen entzogen werden. Das heißt nicht, dass die Interessen der unterschiedlichen EU-Mitgliedsländer ignoriert werden. Alle Mitgliedsländer sind ja, wie gesagt, durch Abgeordnete verschiedener Parteien im Europäischen Parlament vertreten. Und im Rat sind die Regierungen der EU-Mitgliedsländer vertreten.

Da im Europäischen Parlament auch Abgeordnete der EU-Länder sitzen, über deren Schicksal verhandelt wird, können sie anders als in nationalen Parlamenten, die ja letztlich nichts anderes als Regionalparlamente sind, an den Debatten und Abstimmungen teilnehmen. Zugleich käme nicht nur die jeweilige nationale Perspektive zur Sprache, sondern auch eine europäische. Das ist ein enormer qualitativer Unterschied zu dem gegenwärtigen Abstimmungsverfahren. Auch die Ungleichheit und das Ungleichgewicht, dass in nur einigen Mitgliedsländer die Parlamente über die Hilfspakete abstimmen müssen/können, würde vermieden, wenn Hilfspakete im Europäische Parlament abgestimmt würden.

Gegenwärtig finden die Verhandlungen über Hilfspaket zwischen dem betroffenen Mitgliedsland und dem EU-Rat und der Euro-Gruppe statt. Letztere hat einen rein informellen Charakter, hat also keine rechtliche Grundlage und verfügt keinerlei demokratischer Legitimation.

Insbesondere bei den kleineren Mitgliedsstaaten zeigt sich in den Verhandlungen über Hilfspakete, dass sie der politischen Übermacht des EU-Rates und der Euro-Gruppe kaum etwas entgegensetzen können, um ihre Interessen zu wahren.

In dem Fall, dass Hilfspakete im Europäischen Parlament zur Abstimmung kämen, wären sie zu behandeln wie ein normales EU-Gesetzgebungsverfahren: Parlament und Rat wären gleichberechtigte Mitentscheider und müssten sich unter Einbeziehung der Kommission auf einen gemeinsamen Kompromiss verständigen. Das Machtungleichgewicht, das derzeit in Verhandlungen zwischen einem einzelnen (kleinen) EU-Mitgliedsland und dem EU-Rat besteht, würde damit vermieden. Dieses Verfahren, die so genannten Gemeinschaftsmethode ist von den Eu-Verträgen eigentlich auch als einzige Verhandlungsmethode vorgesehen. Erst im Zuge der Krisenpolitik wurde diese Methode auf Betreiben von Bundeskanzlerin Merkel durch die gegenwärtige Verhandlungsmethode ersetzt. Eine Rückkehr zur Gemeinschaftsmethode fordert im übrigen auch dieEntschließung des Europäischen Parlaments vom 13. März 2014 zu der Untersuchung über die Rolle und die Tätigkeiten der Troika (EZB, Kommission und IWF) in Bezug auf Programmländer des Euroraums (2013/2277(INI))

Die Rede von Alexis Tsipras im Europäischen Parlament am 8. Juli 2015 mit der anschließenden Debatte lässt sich durchaus auch als ein Schritt in diese Richtung interpretieren.

Stell man diese Überlegungen in Rechnung, dann ergibt sich im Blick auf die Bundestagsabstimmung vom 17. Juli über das Verhandlungsmandat für ein drittes Hilfspaket für Griechenland eine vierte Option, die einen Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma hätte aufzeigen können. Die vierte Option hätte bedeutet, nicht an der Abstimmung teilzunehmen. Die Linksfraktion hätte die Entscheidung, nicht an der Abstimmung teilzunehmen, mit der grundsätzlichen Fragwürdigkeit dieser Abstimmung und mit der Forderung, diese Abstimmung aus den vorgenannten Gründen an das Europäische Parlament zu verweisen, begründen können.

Natürlich wäre diese Forderung gegenwärtig nicht durchsetzbar. Aber die Diskussion darüber hätte angestoßen werden können. Möglicherweise hätte sie auch die Grünen davon überzeugen können, diesen Weg mitzugehen.

Mit der Forderung, grundsätzlich über Hilfspakete wie das an Griechenland im Europäischen Parlament abzustimmen und nicht in Regionalparlamenten, käme auch wieder die europäische Dimension der Krise in den Blick. Denn die Krise ist nur zu einem Teil eine griechische, sie ist vor allem eine Krise, die sich aus den Konstruktionsfehlern des Euroraums ergibt: das Fehlen einer gemeinsamen Fiskal- und Sozialpolitik der EU, ohne die der Euro auf Dauer nicht funktionieren kann – unabhängig davon, ob es der Regierung von Alexis Tsipras gelingt, den griechischen Staat und die griechische Gesellschaft zu reformieren oder auch nicht. Gerde deshalb ist es wichtig, die europäische Seite der Krise endlich zu thematisieren!