Endlich hat Griechenland eine eigene Stimme. Eine Stimme, die gehört wird in Europa.

Rede von Alexis Tsipras vor der parlamentarischen Fraktion von SYRIZA am 17.02.2015

19.02.2015

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde,

drei Wochen nach der Wahl und bereits jetzt spürt das griechische Volk, dass das Land in dem es lebt und atmet, ein anderes ist. Nein, wir haben unsere großen wirtschaftlichen Probleme nicht hinter uns gelassen. Nein, wir haben es noch nicht geschafft, die Wunden der Krise zu heilen.

Die Arbeitslosen sind weiterhin arbeitslos und Millionen unserer Mitbürger kommen noch immer nur sehr schwer über die Runden.

Was jedoch von Grund auf anders ist, ist das Empfinden eines jeden Bürgers dieses Landes. Denn das Gefühl der Erniedrigung und Demütigung ist gewichen.

Die Griechinnen und Griechen empfinden wieder Stolz und Würde. Denn man kann sich nicht mehr benehmen, als sei Griechenland eine Kolonie. Denn man kann sich den GriechInnen gegenüber nicht mehr verhalten, als seien sie die Leibeigenen Europas.

Die in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung einzigartige organische Einheit des griechischen Volkes und seiner Regierung, einer Regierung zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts, sendet ein unmissverständliches Signal an Europa:

Griechenland ist anwesend. Griechenland ist hier, es steht und kämpft aufrecht darum der Austeritäts- und Schuldenfalle zu entkommen. Und Griechenland wird entkommen.

Ganz gleich wie sehr sich manche ein eingekesseltes, ein willen- und stimmloses Griechenland wünschen, stelle wir klar: Die Republik Griechenland droht nicht und lässt sich nicht drohen. Weder setzt sie Bedingungen, noch akzeptiert sie, dass man ihr Bedingungen setzt. Sie debattiert nicht mit laufendem Ultimatum. Die Republik Griechenland verhandelt als gleichwertiger Partner.

Das ist die erste greifbare, die erste wirkliche Veränderung, die viele im In- und Ausland nur schwer verstehen können und nicht wahrhaben wollen. Denn zum ersten Mal hat Griechenland eine eigene Stimme. Eine Stimme, die laut und deutlich auf hunderten Solidaritätskundgebungen in ganz Europa zu hören ist. Eine Stimme, die auf den europäischen Foren zu hören ist, dort wo die Gesandten Griechenlands, auch unter noch so großem Druck, nicht zu allem ja und amen sagen.

Zum ersten Mal sagen die Vertreter unseres Landes Nein. Und meinen Nein. Das mag manche stören und nerven. Herr Schäuble hat gestern die Fassung verloren. Ich sage das nicht, weil er sich über die griechischen Regierung ausgelassen hat. Das ist sein gutes Recht. Sondern weil er sich herablassend über das griechische Volk geäußert hat.

Mit allem gebührenden Respekt und ganz im Geiste der Freundschaft, möchte ich Herrn Schäuble nahelegen, doch lieber jene zu bemitleiden, die mit gesenktem Kopf gehen. Und nicht jene, die erhobenen Hauptes voranschreiten. Für diese Menschen sollte er kein Mitleid empfinden, sondern tiefen Respekt und Bewunderung. Kein Mitleid.

Wir hatten klargestellt, dass diese neue Regierung zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts, ein Einschnitt sein wird, der das Ende der Vergangenheit markiert, dass die neue Regierung den einen, unumgänglichen Weg in Richtung Zukunft eröffnen wird.

Und wir Stellen es unter Beweis. Die würdevollen Atemzüge unseres Volkes, auf den Straßen und Plätzen des Landes, die praktische Solidarität der Völker Europas und die vielen Solidaritätskundgebungen, wie wir sie nur aus den Jahren der Solidarität mit dem Widerstand gegen die Militärdiktatur in unserem Land kannten, sie sind es, sie haben unsere roten Linien gezogen.

Nicht nur die roten Linien Griechenlands, sondern auch die, des gesamten demokratisch gesinnten Europa.

Eines Europa, das unter der Austerität zu ersticken droht und auf uns schaut, wie auf einen Funken, der einen koordinierten Richtungswechsel einleiten wird, in Richtung Erlösung von der Austeritätspolitik und in Richtung eines nachhaltigen Wachstums.

Liebe GenossInnen, wir sind nicht die Befehlsempfänger, die man aus der Vergangenheit kennt. Wir sind nicht die Verwalter des Memorandums. Wir halten das klare und einzigartige Mandat zur Rettung dieses Landes und seiner Bevölkerung in den Händen.

Und diese Rettung wird nicht durch die Fortsetzung eines Fehlers herbeigeführt werden, wie von den Gläubigern gefordert.

Und auch von jenen politischen Kräften, die uns dazu auffordern, uns mit dem Memorandum abzufinden.

Unsere Antwort lautet: wir haben es nicht eilig und wir lenken nicht ein.

Wir arbeiten auf eine ehrliche Vereinbarung, die von allseitigem Nutzen sein wird, hin.

Eine Vereinbarung ohne Austerität, ohne Memorandum und ohne Troika.

Alles andere kann nicht als Vereinbarung bezeichnet werden.

Es wäre eine Kapitulation, käme einem Gnadenschuss für unsere Heimatland gleich, wäre ein Rückzug des Europas der Aufklärung gegenüber einem Europa, das anderen Ultimaten für ihre Kapitulation setzt.

Es wäre als stimmten wir der Ansicht zu, der zufolge Demokratie und Wahlen in Ländern mit Hilfsprogrammen, überflüssig sind.

Wir stellen ein für alle Mal und gegenüber allen klar, dass unsere Regierung nicht das Recht hat, derartige Abstriche von gemeinsamen Werten und Grundsätzen zu machen und sie wird es nicht tun.

Werte und Grundsätze der europäischen Einigung.

Noch ein weiteres Mal versichern wir, dass - ganz unüblich für dieses Land, in dem Regierungen nachdem sie gewählt wurden, anders handeln als zuvor angekündigt - unsere Regierung gedenkt, eine Neuerung einzuführen: Wir werden das, was wir vor den Wahlen verbindlich versprochen haben, einhalten.

Den Anfang machen wir am Donnerstag. Da wird der erste Gesetzesentwurf, der Sofortmaßnahmen zum Schutz des Erstwohnsitzes der Bürger und das Verbot des Weiterverkaufs von Immobilienkrediten an ausländische Fonds, so genannte „distress fonds“, vorsieht, ins Parlament eingebracht.

Wir werden das Arbeitsrecht wieder einführen und, in Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation, eine europäische Errungenschaft zurück nach Griechenland bringen: Das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, das in Artikel 28 der Europäischen Grundrechtscharta verankert ist und untrennbarer Teil des europäischen Vertragswerkes ist, das von der Troika gebrochen wurde.

Auf dieser Basis führen wir das Tarifrecht und dreijährigen Laufzeit von Tarifverträgen wieder ein, die Erweiterbarkeit ihrer Gültigkeit, ebenso wie Schlichtungsinstanzen wieder ein.

Wir werden das Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Volk und ihre Einheit weder zerstören, noch untergraben, wir werden sie nicht zugunsten der Interessen unserer Gläubiger relativieren.

Wir werden ohne Abstriche an den gegenüber dem griechischen Volk eingegangenen Verpflichtungen festhalten.

Indem wir die Wahrheit sagen.

Und indem wir mit Entschlossenheit und Besonnenheit mit den Ereignissen in der Eurozone umgehen.

Ich möchte an dieser Stelle das enge und solidarische Verhältnis des griechischen Volkes zu anderen Völkern Europas betonen.

Dieses kommt in den unzähligen bewegenden Solidaritätsveranstaltungen zum Ausdruck, die wir allerorts sehen.

Besonders bewegt haben mich die Kundgebungen in vielen deutschen Städten und die Solidarität der Deutschen.

Nichts steht zwischen uns und der deutschen Bevölkerung.

Das Klima der Zwietracht, das manche auf beiden Seiten zu schüren versuchen, ist wenig hilfreich.

Wenig hilfreich ist auch die provokative politische Botschaft, die von einer Karikatur ausgeht, die in der vergangenen Woche publiziert wurde und Wolfgang Schäuble in Nazi-Uniform zeigt. Dies entspricht nicht unserer Auffassung.

Es handelt sich um eine sehr unglückliche Botschaft, mit der sich die griechische Regierung in keiner Weise identifizieren kann.

Ebenso wenig wie das griechische Volk. Man sollte nicht einmal zum Spaß mit den Geistern der Geschichte spielen.

Liebe GenossInnen, trotz des unerträglichen Drucks, bleiben wir besonnen und entschlossen.

Im Fokus unserer Arbeit steht der Verhandlungsprozess, der sich noch in der Anfangsphase befindet, und wir arbeiten mit unseren Partnern zusammen, auf Basis konkreter, von uns dargelegter Vorschläge.

In gutem Glauben und mit dem aufrichtigen Willen zu ertragreichen Gesprächen.

Wir wollen eine Lösung – keinen Bruch.

In einem harten Verhandlungsprozess, in dem wir es abgelehnt haben, den psychologischen Erpressungsversuchen der Gläubiger nachzugeben, sind wir mit Jeroen Dijsselbloem am vergangenen Donnerstag, fünfzehn Minuten vor Beginn der Sitzung des Europäischen Rates, zu einer gemeinsamen Erklärung gelangt.

Es handelt sich um die Erklärung, die auch der Europäische Rat angenommen hat und durch welche die Eurozone erstmals Abstand davon genommen hat, das Memorandum zur Bedingung des neuen Verhältnisses zwischen Griechenland und seinen Gläubigern zu machen.

Zugleich wurde die Einschätzung und Bewertung der gemeinsamen Basis, auf welcher der Übergang vom Memorandum zum Wachstumsplan der griechischen Regierung stattfinden statt finden könne, zum Gegenstand von Verhandlungen erklärt.

Kurz vor Beginn der gestrigen Tagung der Eurogruppe, legte man uns den Entwurf eines gemeinsamen Statements vor, das von Pierre Moscovici als Gesprächsgrundlage vorgetragen wurde.

Da wir uns am Rande dessen bewegten, was durch unsere roten Linien abgesteckt worden war, haben wir den Entwurf als Gesprächsgrundlage akzeptiert und uns darum bemüht, konstruktiv zur Findung einer für alle Seiten akzeptablen Lösung beizutragen.

In dem Entwurf war die Rede von einer Verlängerung der Kreditvereinbarung – und eben nicht des laufenden Programms – welche zu einer viermonatigen Übergangsvereinbarung führen würde, die den Zeitraum bis zum Abschluss eines Wachstumsprogramms für Griechenland regeln würde.

Darüber hinaus wurde die Finanzierung von Maßnahmen zur Bekämpfung der humanitären Krise erwähnt, ebenso wie technische Hilfestellungen der EU-Kommission, die zur Beschleunigung des Reformprozess beitragen sollten.

Eine viertel Stunde vor Beginn der Eurogruppe hat Herr Dijsselbloem diesen Entwurf eines gemeinsamen Statements durch einen anderen Entwurf ersetzt, der sich unserer Kenntnis entzog.

Es ist uns nicht bekannt, auf wessen Initiative hin dies geschehen ist.

Wir sind uns jedoch darüber im Klaren, dass diese Handlung darauf abzielte, ja uns geradezu dazu drängte, von einer Einigung am gestrigen Abend Abstand nehmen zu müssen.

Denn dieser neue Entwurf sah nicht einfach nur die Verlängerung des Memorandums vor, sondern ging noch einen Schritt weiter.

Er sah die Konkretisierung der Maßnahmen vor, die unsere Regierung zu treffen habe, damit das Memorandum nicht nur auf dem Papier fortbestünde.

Man verlangt von uns nicht nur, dass die fünfte Bewertung zu Ende geführt werde und die entsprechenden Maßnahmen umgesetzt würden, sondern auch Privatisierungsmaßnahmen und das Erzielen von unerträglich hoher Primärüberschüssen, um so, künstlich, den Eindruck der Schuldentragfähigkeit zu schaffen.

Die Tatsache, dass dieses unsägliche Papier der Eurogruppe als Gesprächsgrundlage vorgelegt wurde, und ein Dokument, dem wir als Gesprächsgrundlage zugestimmt hatten, zurückgezogen wurde, macht unmissverständlich klar, dass gewisse Kreise sich bei ihren Versuchen, die griechische Regierung zu untergraben, nicht davor scheuen mit Europa spielen.

Für uns sind die Eurozone und die Zukunft des geeinten Europa jedoch kein Spiel.

Sie sind kein Spielzeug in den Händen eines Finanzministertreffens, bei welchem Vertreter aus 18 Ländern anwesend sind, die am Ende immer das beschließen, was dem Willen eines einzigen entspricht, weil manche es sich so gefallen lassen.

Und das, obwohl dabei europäisches Vertragswerk gebrochen wird, dessen fundamentaler Bestandteil die gemeinschaftlichen Werte der Demokratie und der Grundsatz der Volkssouveränität sind, die im Memorandum jedoch nicht vorkommen.

Das Europäische Vertragswerk ist für uns verbindlich – die Politik und die Zwangsvorstellungen konservativer Regierungen der Eurozone sind es nicht.

Wir fordern alle dazu auf, sich ihrer jeweiligen Verantwortung bewusst zu werden.

Der Verantwortung dafür, das Herz Europas vor einer Teilung zu bewahren und ebenso der Verantwortung dafür, die Stabilität der äußerst sensiblen Region des südöstlichen Mittelmeers nicht zu gefährden.

Aus diesem Grund unterstreichen wir abermals unsere Überzeugung, dass es sich bei den Verhandlungen mit unseren Partnern nicht um einen technischen Prozess handelt, sondern um einen zutiefst politischen Verhandlungsprozess mit geopolitischen Dimensionen.

Und genau deshalb wird dieser Verhandlungsprozess fortgesetzt.

Den Ausweg aus der beim Eurogruppentreffen zustande gekommenen Sackgasse, können uns keine Technokraten aufzeigen.

Sondern nur die politischen Führer Europas.

Und eben deshalb sind wir zuversichtlich, dass es zu einer Lösung kommen kann und kommen wird.

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