Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. Juni 2013 zur Lage in der Türkei

14.06.2013

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. Juni 2013 zur Lage in der Türkei (2013/2664(RSP))

Das Europäische Parlament ,

– unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen, insbesondere die Entschließung vom 18. April 2013 zu dem Fortschrittsbericht 2012 über die Türkei(1) ,

– unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union,

– unter Hinweis auf den Verhandlungsrahmen für die Türkei vom 3. Oktober 2005,

– unter Hinweis auf den Beschluss des Rates 2008/157/EG vom 18. Februar 2008 über die Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit der Türkei(2) („Beitrittspartnerschaft") und die vorangegangenen Entscheidungen des Rates zur Beitrittspartnerschaft aus den Jahren 2001, 2003 und 2006,

– gestützt auf Artikel 110 Absätze 2 und 4 seiner Geschäftsordnung,

A. in der Erwägung, dass die türkische Polizei am Freitag, den 31. Mai 2013, in den frühen Morgenstunden mit unangemessener Gewalt versucht hat, eine Gruppe von Demonstranten aufzulösen, die seit Wochen dagegen protestiert hatten, dass im Istanbuler Gezi-Park nahe dem Taksim-Platz für ein Neubauprojekt Bäume gefällt werden sollen;

B. in der Erwägung, dass es infolge des gewaltsamen Vorgehens der Polizei zu Zusammenstößen mit den Protestanten kam, die sich rasch auf andere türkische Städte ausdehnten, und unter Hinweis darauf, dass diese Zusammenstöße vier Todesopfer gefordert haben, mehr als tausend Menschen verletzt wurden, zahlreiche Menschen verhaftet wurden sowie schwere Schäden an privatem und öffentlichem Eigentum entstanden sind; in der Erwägung, dass in exzessivem Maße Tränengas eingesetzt und direkt auf Demonstranten gefeuert wurde, was schwere Verletzungen verursachte;

C. in der Erwägung, dass die Demonstrationen in verschiedenen Schichten der türkischen Gesellschaft Unterstützung gefunden haben; in der Erwägung, dass Männer und Frauen gleichermaßen an den Demonstrationen teilnahmen;

D. in der Erwägung, dass die scharfe Verurteilung durch die türkische Regierung offenbar kontraproduktiv gewesen ist;

E. in der Erwägung, dass in Artikel 34 der türkischen Verfassung das Recht verankert ist, friedliche und unbewaffnete Versammlungen und Demonstrationen zu veranstalten, ohne dass dazu eine Genehmigung erforderlich ist; in der Erwägung, dass in Artikel 26 das Recht auf Meinungsfreiheit festgeschrieben ist und in Artikel 27 und 28 die Meinungsfreiheit und die ungehinderte Verbreitung von Gedanken garantiert wird;

F. in der Erwägung, dass die Proteste in einigen Teilen der türkischen Gesellschaft auch im Zusammenhang mit Bedenken gegen eine Reihe in jüngster Zeit ergangener Beschlüsse und Rechtsetzungsakte stehen, die beispielsweise Beschränkungen beim Verkauf von Alkohol und Bildungsreformen betreffen;

G. in der Erwägung, dass die Demonstranten zunehmend Bedenken hinsichtlich einer als unzureichend wahrgenommenen Vertretung von Minderheitenansichten, autoritärer Staatsführung sowie eines Mangels an Rechtsstaatlichkeit, verantwortlichem Regierungshandeln und fairen und angemessenen Verfahren in der Türkei äußern;

H. in der Erwägung, dass sich die wichtigsten türkischen Massenmedien nicht zu den Demonstrationen geäußert haben und dass Twitter-Nutzer festgenommen wurden;

I. in der Erwägung, dass die Türkei als Kandidat für einen EU-Beitritt verpflichtet ist, die Demokratie zu achten und zu fördern sowie demokratische Rechte und Freiheiten und die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu festigen;

J. in der Erwägung, dass Kommissionsmitglied Füle und die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Kommission, Catherine Ashton, auf die Ereignisse reagiert haben;

K. in der Erwägung, dass die Versammlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit (auch online und offline über soziale Medien) und die Pressefreiheit zu den Grundsätzen der EU zählen;

1. spricht den Angehörigen der ums Leben gekommenen Demonstranten und des ums Leben gekommenen Polizisten sein tiefes Beileid aus und wüscht den zahlreichen Verletzten baldige Genesung;

2. ist zutiefst besorgt über die unverhältnismäßige und überzogene Anwendung von Gewalt durch die türkischen Polizeikräfte bei ihrer Reaktion auf die friedlichen und rechtmäßigen Proteste im Istanbuler Gezi-Park und ruft die türkischen Behörden auf, die Polizeigewalt gründlich zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen sowie die Opfer zu entschädigen; warnt die türkische Regierung vor harten Maßnahmen gegen die friedlichen Demonstranten und fordert den Ministerpräsidenten nachdrücklich auf, eine vermittelnde und versöhnliche Position einzunehmen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden;

3. bedauert, dass trotz der Ankündigung der türkischen Behörden, sich mit einigen der Anführer der Proteste zu Gesprächen zu treffen, die Polizeigewalt auf dem Taksim-Platz und in dessen Umgebung weiter anhält, so dass die Aussichten auf Gespräche zwischen der Regierung und den Protestanten erheblich gedämpft werden;

4. fordert die türkischen Behörden auf, das Recht aller Bürger auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und friedlichen Protest zu garantieren und zu achten; fordert die unverzügliche Freilassung aller festgenommenen und derzeit in Gewahrsam befindlichen friedlichen Demonstranten; fordert, dass alle Festgenommenen uneingeschränkten Zugang zu Rechtsanwälten ihrer Wahl haben; fordert Informationen über die genaue Zahl der Festgenommenen und Verletzten;

5. bedauert die Reaktionen der türkischen Regierung und von Ministerpräsident Erdoğan, der dadurch, dass er es ablehnt, versöhnliche Schritte zu ergreifen, sich zu entschuldigen und die Reaktionen eines Teils der türkischen Bevölkerung zu verstehen, nur zu einer weiteren Polarisierung beigetragen hat;

6. begrüßt die gemäßigte Antwort von Präsident Gül und die an die verletzten Demonstranten gerichtete Entschuldigung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Arınç sowie ihren Dialog mit der Taksim-Plattform und den politischen Oppositionsführern, um zu einer Entspannung der Situation beizutragen; betont, dass der Dialog zwischen der türkischen Regierung und den friedlichen Demonstranten von großer Bedeutung ist;

7. weist die Türkei darauf hin, dass sich in einer inklusiven und pluralistischen Demokratie alle Bürger repräsentiert fühlen sollten und dass die Mehrheit die Verantwortung hat, die Opposition und die Zivilgesellschaft in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen; weist ferner die Oppositionsparteien auf ihre Verantwortung hin, ihren Beitrag zur Schaffung einer demokratischen politischen Kultur zu leisten, in der unterschiedliche Sichtweisen und Meinungen respektiert werden;

8. ist besorgt über die anhaltende Konfrontation zwischen den politischen Parteien und die mangelnde Bereitschaft seitens der Regierung und der Opposition, auf einen Konsens über wichtige Reformen hinzuarbeiten; fordert alle politischen Akteure, die Regierung und die Opposition nachdrücklich auf zusammenzuarbeiten, um die politische Pluralität in den staatlichen Einrichtungen zu verbessern und die Modernisierung und Demokratisierung des Staates und der Gesellschaft zu fördern;

9. weist darauf hin, dass ein System der Kontrolle und Gegenkontrolle bei der Führung eines modernen demokratischen Staates von zentraler Bedeutung ist, sich im laufenden Verfassungsgebungsprozess niederschlagen sollte und sich auf den Grundsatz der Gewaltenteilung mit einem Gleichgewicht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, auf die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten – insbesondere der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit – und auf eine partizipative politische Kultur, die die Pluralität einer demokratischen Gesellschaft wirklich widerspiegelt, stützen muss; ist der Überzeugung, dass die Organisation friedlicher und rechtmäßiger Proteste von der Lebendigkeit der türkischen Zivilgesellschaft zeugt; weist die Türkei auf die Bedeutung kontinuierlicher Anstrengungen zur weiteren Verbesserung ihrer demokratischen Institutionen, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Grundfreiheiten hin;

10. betont die Notwendigkeit, dass die Polizeikräfte und die Justiz sowohl während der Ausbildung als auch während der aktiven Laufbahn kontinuierlich und intensiv in Bezug auf die Umsetzung des Istanbul-Protokolls (einer Reihe von internationalen Leitlinien gegen Folter und Misshandlungen) und den Vorrang der Rechte und Freiheiten des Einzelnen geschult werden sollten;

11. fordert die lokalen und nationalen Behörden in der Türkei auf, bei allen städtischen und regionalen Entwicklungsplänen Konsultationen der Öffentlichkeit einzuleiten; weist erneut darauf hin, dass es ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und sozialen, ökologischen, kulturellen und geschichtlichen Faktoren geben muss; fordert, dass alle einschlägigen Projekte in der Türkei ausnahmslos Umweltverträglichkeitsprüfungen unterzogen werden;

12. stellt fest, dass die beispiellose Welle des Protests auch die zunehmende Unzufriedenheit in Teilen der türkischen Bevölkerung hinsichtlich der Regulierung des Lebensstils zum Ausdruck bringt; bekräftigt, dass Regierungen in einer demokratischen Gemeinschaft Toleranz fördern und die Religions- und Glaubensfreiheit aller Bürger gewährleisten müssen; fordert die Regierung auf, die Pluralität und den Reichtum der türkischen Gesellschaft zu achten und säkulare Lebensstile zu schützen;

13. warnt, dass die polizeiliche Gewalt die Glaubwürdigkeit der Türkei als regionales Vorbild für einen demokratischer Wandel in der südlichen Nachbarregion untergräbt;

14. weist erneut darauf hin, dass die Meinungsfreiheit und der Medienpluralismus den Kern der europäischen Werte bilden und dass eine wirklich demokratische, freie und pluralistische Gesellschaft eine wirkliche Meinungsfreiheit voraussetzt; erinnert daran, dass sich die Meinungsfreiheit nicht nur auf Informationen oder Gedanken erstreckt, die positiv aufgenommen oder als harmlos angesehen werden, sondern im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte auch auf solche, die für den Staat oder einen Bevölkerungsteil Anstoß erregend, beunruhigend oder kränkend sind;

15. ist besorgt über die Verschlechterung der Pressefreiheit und über einige Zensurmaßnahmen und die zunehmende Selbstzensur in den türkischen Medien, auch im Internet; fordert die türkische Regierung auf, den Grundsatz der Pressefreiheit zu wahren; betont, dass eine unabhängige Presse für eine demokratische Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, und weist in diesem Zusammenhang auf die grundlegende Rolle der Justiz bei der Wahrung und Förderung der Pressefreiheit hin, durch die ein öffentlicher Raum für eine freie und inklusive Diskussion gewährleistet wird; zeigt sich besorgt über die große Zahl an inhaftierten Journalisten und die zahlreichen laufenden Verfahren gegen Journalisten; fordert die Freilassung der im Bereich der sozialen Medien tätigen Aktivisten; hält die Entscheidung des RTÜK (Oberster Rat für Hörfunk und Fernsehen), die Fernsehsender, die seit dem Beginn der Ereignisse im Gezi-Park über diese Ereignisse berichtet haben, wegen „Gefährdung der körperlichen, geistigen und moralischen Entwicklung von Kindern und jungen Menschen" zu bestrafen, für zutiefst bedauerlich;

16. bekräftigt seine Besorgnis angesichts der Tatsache, dass sich die meisten Medien im Besitz von großen Konzernen befinden, einer starken Konzentration unterliegen und von einem breiten Spektrum geschäftlicher Interessen beeinflusst werden; bekräftigt seine Forderung nach Verabschiedung eines neuen Mediengesetzes, welches unter anderem Fragen der Unabhängigkeit, des Eigentums und der Verwaltungskontrolle regelt;

17. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik/Vizepräsidentin der Kommission, dem Generalsekretär des Europarates, dem Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten und der Regierung und dem Parlament der Republik Türkei zu übermitteln.

(1) Angenommene Texte, P7_TA(2013)0184.
(2) ABl. L 51 vom 26.2.2008, S. 4.