Europa – um jeden Preis? Und was ist uns Europa eigentlich wert?

DUISBURGER KANZELREDE von JORGO CHATZIMARKAKIS, MdEP (FDP)

04.03.2013

In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Was bringen uns teure Theater und Konzerthäuser? Wie umgehen mit Niederlagen im Leben? Wie Erfolge richtig genießen? Die evangelische Kirchengemeinde Alt-Duisburg ist der Meinung, dass nicht alleine kirchliche Würdenträger etwas zu diesen Fragen beitragen können. Ob WDR-Intendant, ehemaliger Verfassungsrichter oder Präsident des MSV Duisburg - seit 2009 wurden regelmäßig Persönlichkeiten aus der Region geladen, ihre Ideen in einem ungewohnten Rahmen vorzustellen.

Zur Frage "Was ist uns Europa eigentlich wert?" hat die Gemeinde zuletzt den griechischstämmigen EU-Abgeordneten Jorgo Chatzimarkakis auf die Salvatorkanzel geladen. Muss uns die Krise im Süden Europas etwas angehen? Sind die Griechen die verlorenen Söhne Europas? Und ist Europa nicht mehr als die Chance zum besseren Geschäftemachen, sondern auch zum Lernen von- und übereinander? Diesen Fragen geht der FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis in seiner Kanzelrede vom 24.2.2013 nach - lesen Sie selbst!

"Europa – um jeden Preis? Und was ist uns Europa eigentlich wert?"

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

heute in der Duisburger Salvatorkirche sprechen zu können, das ist eine sehr große Ehre für mich. Duisburg ist meine Heimatstadt. Ich bin im Schatten dieses Gotteshauses aufgewachsen, ich bin in der Innenstadt zur Schule gegangen und war viele Jahre in dieser Stadt politisch aktiv.

Wenn ich nach Duisburg komme – inzwischen lebe ich im Saarland – dann weiß ich, dass ich hier zu Hause bin. Als orthodoxer Christ freue ich mich deshalb ganz besonders, heute in dieser wunderbaren evangelischen Kirche sprechen zu können.

Sehr nachdrücklich möchte ich mich bei Ihnen, Herr Pfarrer Winterberg, den Verantwortlichen des Kirchenkreises, aber auch bei allen Gemeindemitgliedern für Ihre herzliche Einladung und den freundlichen Empfang bedanken.

In der Nacht zu Samstag, ist mein Kollege Alexander Alvaro auf der A1 bei Leverkusen schwer verunglückt. Ein Mensch kam ums Leben. Alexander, ebenso wie zwei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Dieser Schicksalsschlag meines Freundes berührt mich sehr, ich wünsche ihm die Kraft, die er braucht, um jetzt erstmal zu überleben. Ich bete für ihn. Meine Gedanken sind bei den Angehörigen aller Opfer. Ich bitte Sie sehr herzlich, diese Menschen in ihre Gebete einzuschließen.

Meine Damen und Herren,

Europa – um jeden Preis? Und was ist uns Europa eigentlich wert? Das ist die Frage, die Sie mich gebeten haben, heute zu beantworten. Folgende Bilder sind mir in den Kopf gekommen:

Vor dem griechischen Parlament, wo ansonsten Touristen die Wachablösung fotografieren, erschießt sich ein Rentner. Er hat kein Geld mehr, um sich etwas zu Essen kaufen zu können. Und zu betteln, das lässt sein Stolz nicht zu.

Ein Mann bringt seine pflegebedürftige Mutter unter einem Vorwand auf das Dach seines Wohnhauses. Er stößt sie herunter und springt ihr dann hinterher. Sein Selbstmord allein hätte seine Mutter noch mehr leiden lassen, er entschied sich, sie mit in den Tod zu nehmen.

Eine arbeitslose Mutter auf der Insel Thasos gibt ihr Kind in ein SOS-Kinderdorf, weil sie es nicht mehr ernähren kann.

Zum gleichen Zeitpunkt weiß 2.400 Kilometer nördlich ein Finanzminister nicht, wohin mit den sprudelnden Steuermilliarden; viele Länder und Kommunen haben zum ersten Mal seit Jahrzehnten ausgeglichene Haushalte. Auch wenn dies für Duisburg nicht zutrifft. Insgesamt wächst die Exportwirtschaft und die Arbeitslosigkeit sinkt in Deutschland.

Beides sind Bilder europäischer Wirklichkeit. Es fällt schwer, dies zu glauben. Wie kann es eine derartige Verzweiflung auf der einen und breiten Wohlstand auf der anderen Seite geben?

Immerhin ist die Europäische Union auch eine Wertegemeinschaft. Diese Wertegemeinschaft hat im November 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. In der Begründung heißt es:

"Die Union und ihre Vorgänger haben über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen. Seit 1945 ist diese Versöhnung Wirklichkeit geworden. Das furchtbare Leiden im Zweiten Weltkrieg zeigte die Notwendigkeit eines neuen Europa. Über 70 Jahre hatten Deutschland und Frankreich drei Kriege ausgefochten. Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar. Das zeigt, wie historische Feinde durch gut ausgerichtete Anstrengungen und den Aufbau gegenseitigen Vertrauens enge Partner werden können."

Ein Preis für die Bewahrung des Friedens, ein Preis dafür, alte Gräben erfolgreich überwunden zu haben. Alles bestens also? Was denken eigentlich die Bürger Europas über diese derart hochkarätig gewürdigte Institution? Welche Meinung haben Menschen die, wie in Griechenland, so verzweifelt über ihre persönliche Lage sind, dass sie den Selbstmord als Ausweg in Betracht ziehen und dann auch wirklich begehen?

Nach der letzten, aktuellen Meinungsumfrage, haben 53% der Griechen eine negative Meinung über die EU. Dies obwohl das Land traditionell seit dem EU-Beitritt 1981 immer zu den europafreundlichsten gehörte. Aber auch in Deutschland, wo es uns noch immer gut geht, haben immer weniger Menschen ein positives EU-Bild.

Im Juli 2012 legte ein Meinungsinstitut die Ergebnisse einer Umfrage vor. Zum ersten Mal seit diesen Erhebungen glaubt tatsächlich die Mehrheit der deutschen Befragten, dass es ihnen ohne die EU besser ginge.

Misstrauen und Ablehnung in zwei so ungleichen Mitgliedsstaaten. Griechenland und Deutschland sind natürlich Extrembeispiele. Dass die Griechen von der EU enttäuscht sind ist angesichts der harten Sparpolitik, der das Land seit zwei Jahren unterworfen ist und die mit der EU verbunden wird, durchaus nachvollziehbar.

Mich treibt aber die Frage um, warum auch die Deutschen so unzufrieden mit der EU sind. Ist es wirklich nur auf die ständigen schlechten Nachrichten aus Brüssel zurückzuführen? Oder erreicht die EU einfach nicht mehr die Lebenswirklichkeit der Menschen? Haben wir vielleicht die Grundmauern falsch aufgebaut?

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

Wenn dem so ist, wäre es dann nicht Zeit für eine grundlegende Neuausrichtung Europas? Und was würden wir ganz persönlich für Europa tun, um es eben besser zu machen? Sind wir also bereit, an Europa um jeden Preis festzuhalten? Und welche Opfer würden wir dafür bringen?

Genauer: Welche Opfer würden Menschen in Deutschland oder in Finnland für ein Volk bringen, das weit unten im Süden von Europa lebt. Ein Volk, das mittlerweile nur noch mit negativen Dingen assoziiert wird?

Kein Tag verging in den letzten zwei Jahren ohne eine Katastrophenmeldung aus Athen, fast keinen Tag ohne eine Diskussion über Griechenland, dieses "Fass ohne Boden".

Natürlich verdichtete sich so immer mehr eine öffentliche Meinung, die forderte, dass es so eben nicht weitergehe, dass dieses Volk aus dem Euro herauszuwerfen sei. Nach dem Motto: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Dass die Griechen nicht allein Schuld an der vertrackten Lage sind, soll an dieser Stelle unterstrichen werden. Jahrelang wurden den Griechen geradezu billige Staatskredite aufgedrängt, Unternehmer aus dem Ausland haben griechische Politiker bestochen, um so an überteuerte öffentliche Aufträge zu gelangen. Und so kommt es, dass das Wort Korruption in Griechenland insbesondere mit einem deutschen Großkonzern verbunden ist.

Man sieht also: Es kommt, wie in allen Dingen der Politik und des gesellschaftlichen Lebens, eben immer sehr genau auf die Perspektive an, aus der man schaut und aus der heraus man sein Urteil fällt. Dennoch glaube ich, dass Europa seine größte Bewährungsprobe erfolgreich bestanden hat. Gegenüber einer teilweise schrillen, öffentlichen Geräuschkulisse wurden letztlich doch die richtigen Maßnahmen zum Erhalt der Euro-Zone eingeleitet.

Als Europapolitiker muss ich in diesem Zusammenhängen durchaus gestehen, dass mich das bisher Erreichte stolz macht. Diese Politik entspricht nicht nur dem Geist der deutschen Verfassung, sondern auch der europäischen. Deutschlands Platz ist in Europa. Im Grundgesetz heißt es in der Präambel:

"Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."

Auf diese Worte kommt es mir hier an. Es wird hier klar vom freien Willen Deutschlands gesprochen, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen." Die EU wiederum hat sich in ihrer Präambel zu Ihrem Arbeitsvertrag, die Verfassung Europas also, auf ihre Fahnen geschrieben, aus dem "kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas" zu schöpfen."

Die EU erklärt sich außerdem bereit, nach den Erfahrungen des Krieges als "geeintes Europa auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranzuschreiten" und dass sie den sozialen Fortschritt ebenso wie Demokratie und Transparenz als Grundlage ihres öffentlichen Lebens stärken und auf "Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will."

Hieraus lässt sich durchaus der Auftrag der Verfassungsväter und Verfassungsmütter ableiten, alles zu tun, um dieses Europa zu retten. Auch wenn es eben etwas kostet.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

Europa lebt in einem nicht unwesentlichen Ausmaß vom Engagement seiner politischen Eliten. In den "Losungen" der Herrnhuter Brüdergemeinde, die seit 283 Jahren erscheinen, heißt es Treffenderweise für den heutigen Tag aus dem fünften Buch Mose: "Er behütete sein Volk wie seinen Augapfel."

Wie viele europäische Politiker, wie viele Staats- und Regierungschefs, aber auch Europaabgeordnete, machen eigentlich eine solche Prämisse zur alltäglichen Richtschnur ihres Handelns? Wie viele von ihnen leben zumindest den Geist von Grundgesetz und Europa-Vertrag?

Wegen dieser Frage hat mir Joachim Gauck – unser Bundespräsident - so aus dem Herzen gesprochen, als er in seiner großen Europa-Rede am Freitag gefordert hat: "Europa braucht jetzt nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker, nicht Getriebene, sondern Gestalter."

Joachim Gauck hat aber noch auf etwas anderes sehr zentrales hingewiesen: dass nämlich wir alle in Europa große politische und wirtschaftliche Vorteile von dieser Gemeinschaft haben.

Die größte Errungenschaft dieser EU ist neben der einheitlichen Währung der gemeinsame Binnenmarkt, dessen 20. Jahrestag wir dieses Jahr würdigen.

Ich bin selbst im Parlament Mitglied in dem Ausschuss, der sich mit allen diesbezüglichen Fragen befasst. Man kann durchaus sagen: Der EU-Binnenmarkt ist ein großer Erfolg. Für manche: Die einen hat er reich gemacht, die anderen arm.

Deutschland hat diesen Binnenmarkt sehr gut für seine Bedürfnisse genutzt. Ganz anders sieht es in Ländern wie Portugal oder Griechenland aus. Sie liegen nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie des Binnenmarktes. Sie sind eben keine "industriellen Powerhäuser" wie Deutschland.

Zwischen Januar und November 2012 erzielte Deutschland ein Außenhandelsplus von 145.2 Milliarden Euro. Damit steht es als Gewinner einsam an der Spitze. Griechenland erzielte einen negativen Außenhandelsrekord von rund 20 Milliarden Euro.

Es wird im Norden Europas leider nicht eingesehen, dass die ernormen Gewinne, die im europäischen Binnenmarkt erwirtschaftet werden, zu einer dramatischen Schieflage geführt haben. Im politischen Brüssel, z.B. in der EU-Kommission, ist man sich der Sprengkraft der Leistungsbilanzdefizite innerhalb der Eurozone allerdings sehr bewusst, ergreift aber nicht wirklich die notwendige Massnahmen.

Auch die Mitgliedstaaten der EU haben nicht den Mut, diese Fehlentwicklung offen einzugestehen.

Denn dann müssten sie sich tatsächlich die Frage stellen, ob diese Entwicklung politisch, aber auch im christlichen Sinne, gerecht ist. Und wie wir mit dieser Situation heute umgehen sollen. Die Staatschuldenkrise hat uns gezwungen, zu handeln. Wie wurde aber gehandelt?

Dies läßt sich am besten mit zwei Gleichnissen aus der Bibel auf den Punkt bringen. Da wäre zunächst das Gleichnis von den anvertrauten Talenten, das im Matthäus- und Lukasevangelium ähnlich überliefert wird. Jesus erzählt von einem reichen Menschen, der seine Knechte finanziell üppig ausstattet, bevor er sich auf eine Reise macht.

Nach seiner Rückkehr hält er Abrechnung: Da die ersten beiden Knechte einen Gewinn erwirtschaften, werden ihren Leistungen entlohnt. Der Dritte Knecht jedoch verbarg das Geld aus Angst und investierte es nicht. Sein Herr nimmt es ihm weg, frei nach dem Grundsatz „Wer hat, dem wird gegeben werden; wer nicht hat, dem wird genommen werden."

Und dann kennen wir auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Nachdem ein Mann auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho überfallen und sowohl von einem vorbeikommenden Priester als auch von einem Leviten links liegen gelassen wird, hilft ihm ein Samariter mit seiner Barmherzigkeit.

Die Politik hat sich mit den Rettungspaketen nicht wirklich für die Lehre des zweiten Gleichnisses entschieden. Dazu sind die Zinszahlungen der Griechen, die sie für die "Rettungspakete" zahlen, schlichtweg zu hoch. Ein wenig Samaritertum hat die Politiker am Ende aber doch erfasst, als nämlich den Griechen viele Schulden erlassen wurden und die Zeitachse der Rückzahlungen gestreckt wurde.

Gleichwohl war die politische Debatte in Deutschland stärker als woanders geprägt vom ersten Gleichnis: Der Herr hilft eben nur den Fleißigen. Viele haben wohl auch ein gewisses Maß an Trotz entwickelt, nach dem Motto: Sollen wir uns etwa dafür schämen, dass Deutschland Exportweltmeister ist?

Natürlich nicht. Aber man muss alles auch in seinen Zusammenhängen sehen und in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Europäischen Union ist es nun mal so, dass dort wo Überschüsse sind auch irgendwo Defizite sein müssen und dort, wo Gläubiger sind auch Schuldner sein müssen. Diesem Gesetz der doppelten Buchführung entgeht die EU nicht und entgehen die Völker Europas nicht. Wir hängen mit Vermögen und Schulden zusammen um das pathetische „auf Gedeih und Verderb'" zu vermeiden.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

es geht in Europa aber nicht nur um das Teilen auf der ganz großen Politikebene, wenn wir die Dinge wirklich ändern wollen. Es geht auch um unser tägliches Handeln als Bürger.

Wie viele von uns sind denn eigentlich wirklich bereit, mit einem Wildfremden den letzten Mantel zu teilen, wie es der Bischof Martin von Tours getan hat? Sind wir nicht schon längst zu abgestumpft, viel zu sehr darauf bedacht, die Schäfchen zusammen zu halten?

Ginge der Barmherzige Samariter heute über den Syntagma-Platz in Athen oder den Kurfürstendamm in Berlin, dann wüsste er sicherlich nicht, wem er zuerst helfen sollte. Wer bleibt schon stehen, wenn er einen obdachlosen Flüchtling im Zentrums Athens sieht? Wer zückt schon die Geldbörse, wenn er ein bettelndes Kind am Berliner Dom bei Winterkälte musizieren sieht?

Obwohl ich in dieser Kirche vielleicht den Falschen ins Gewissen rede, wollte ich dies unterstreichen. Denn wir wissen alle, und wir Politiker wissen es sehr gut, in welchem Umfang gerade Kirchengemeinden und ihre Mitglieder helfen, diakonisch und karitativ tätig sind. Aus ihrem Glauben heraus in Selbstverpflichtung, ohne sich damit zu brüsten. Das ist eben Kirche noch immer heute.

Dennoch sage ich: Das wenige, was man hat, in der Not freimütig zu teilen, diese Forderung aus dem Neuen Testament, scheint immer mehr unterzugehen. Auch wenn sich Europa entchristlicht, weil der Anteil der Christen kleiner wird, ist das Christentum doch stark genug, kraftvoll mit dafür zu sorgen, dass diese urchristliche Tugend wiederentdeckt wird.

Diese Wiederenddeckung sollte flankiert sein von einer ehrlichen Debatte darüber, wie wir ein gerechtes Europa schaffen können, das seinen Bürgern Lebenschancen im humanen und christlichen Miteinander ermöglicht. "Lebenschancen" ist übrigens ein zutiefst liberaler Begriff. Er wurde einst von dem großen Soziologen und Liberalen Ralf Dahrendorf geprägt. Er bezeichnete damit eine Politik, die es jedem Menschen ermöglicht, das in ihm Schlummernde zu entfalten. Auch ich bin ein Kind der "Lebenschancen". Als Sohn eines griechischen Arbeitsmigranten aus Kreta, der in Duisburg Stahl gekocht hat, war ich nicht unbedingt prädestiniert, auf dem Landfermann-Gymnasium das Abitur zu machen und später dann auch diese Stadt im Europäischen Parlament zu vertreten.

So würde ich mir auch EU-Politik wünschen: Sie sollte Chancen für alle Bürger schaffen.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

neben dem Teilen, ist mir noch ein weiterer Punkt wichtig, über den wir sprechen müssen, wenn wir die Verleihung des Nobelpreises für eine Neubesinnung nutzen möchten.

Wir brauchen in Europa wieder einen fairen Umgangston. Wir müssen lernen, im christlichen Geist der Versöhnung miteinander umzugehen. Im Verlauf der Euro-Krise ist es hier zu erheblichen Verwerfungen gekommen.

Auf dem Titelbild eines deutschen Nachrichtenmagazins sah man eines der wichtigsten Kulturgüter Griechenlands in einer despektierlichen Fotomontage. Das geht nicht. Da gab es in Griechenland Zeitungen, die die Bundeskanzlerin mit einem Hakenkreuz abbilden. Das geht nicht.

Aber es sind ja nicht nur die Medien. In Deutschland gibt es Politiker, die glauben, sich keinerlei Hemmungen mehr anlegen zu müssen. Die offen drohen, sie wollten an anderen Ländern "ein Exempel" statuieren". So wie ein bayerischer Spitzenpolitiker, der im August 2012 offen forderte, Griechenland müsse aus dem Euro ausscheiden.

Zwecks Illustration führte er eine alte Bergsteigerweisheit an: "Wenn jemand an deinem Seil hängt und dabei ist, dich mit in den Abgrund zu reißen, musst du das Seil kappen." Nein, das muss man eben nicht tun. Wenn man gemeinsam vor einem lebensbedrohlichen Problem steht, dann muss man gemeinsam an einem Strang ziehen.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

Man hört immer wieder hier und da Stoßseufzer, in dem Sinne, dass die "Euro-Krise" fast schon überwunden sei. In der Tat, nach Monaten der Dauerproteste und Verzweiflungstaten scheint es heute relativ "ruhig" in Griechenland. Trotz einer dramatischen Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 60 % für unter 24-Jährige. Es ist aber eine trügerische Ruhe. Die Verzweiflung findet "im Kleinen" statt. Die tragischen Handlungen, die ich eingangs geschildert habe, sind bezeichnend, es gibt sie immer noch, tagtäglich finden sie statt.

In Deutschland ist das Thema Griechenland und Euro aus den Medien verschwunden. Doch die "griechische Wunde" wird nach der Bundestagswahl im Herbst wieder auf der Tagesordnung stehen. Die Euro-Krise, die fundamental eine versteckte Diskussion über das Teilenkönnen in Europa ist, wird mit aller Macht über uns herein brechen.

Wir sollten also endlich wissen, welchen Preis wir für das Überleben Europas zahlen wollen. Wir brauchen in den Überschussländern eine größere Bereitschaft, die finanziellen Gewinne, die durch die EU als institutionelle Wertegemeinschaft möglich gemacht werden, mit den Defizitländern zu teilen, etwa, indem gezielt investiert wird. Und die Völker in diesen reichen Ländern des Nordens – Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, und ich – müssen das verstehen und aus Überzeugung tragen.

Es geht nicht darum, das eigene Geld irgendwelchen „Hallodris" hinterher zu schmeißen - das ist Stammtischfolklore! Es geht um volkswirtschaftliche Zusammenhänge in der vernetzten europäischen Wirtschaft, denen wir nicht entrinnen können. Schon gar nicht als Exporteuropameister: Die Waren, die wir in Deutschland produzieren und auf den fremden Märkten verkaufen, müssen dort auch bezahlt werden können.

Die Deutschen müssen doch selbst das höchste Interessen daran haben, dass es anderen gut geht, denn deutsche Waren sind hochwertig und teuer, die müssen sich die Menschen am Mittelmeer und in der Welt auch wirklich leisten können. Oder aber, wie es Joachim Gauck am Freitag gesagt hat: „Diese Union ist ein Geben und Nehmen, sie darf für niemanden eine Einbahnstraße sein. Sie folgt dem Prinzip der Gegenseitigkeit, der Gleichberechtigung und der Gleichverpflichtung."

Das wäre das erste Zwischenfazit, das ich gerne ziehen möchte.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

Darüber hinaus brauchen wir in Europa einen anderen fundamentalen Wechsel.

Es geht es um eine Reform unseres Gesellschafts- und vor allem Wirtschaftssystems. In Umkehrung eines Bibelwortes: Nicht der Mensch ist für die Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft für Bedürfnisse des Menschen. Der Mensch und sein Wohlbefinden innerhalb der Schöpfung müssen wieder in den Focus unseres täglichen Handelns rücken. Nicht umgekehrt.

Hier ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu starken Verwerfungen gekommen. Viele haben geglaubt, dass es der Markt eben schon richten wird. Aber so ist das nicht und so hat das übrigens liberale Wirtschaftstheorie nie gesehen, denn die ist kein Plädoyer für Regel- und Gesetzlosigkeit! Der entfesselte Markt führt zu Chaos, weil Gewinnstreben ohne gemeinschaftliches Verantwortungsgefühl auf blanke Gier hinausläuft.

Wie kann es denn sein, dass die ehrliche und für unsere Gesellschaft so wichtige Arbeit einer Krankenschwester einer Pflegekraft oder eines Bäckers pro Stunde 400 mal weniger bezahlt wird, als die Arbeit eines Investmentbankers, der letztlich der Gesellschaft sogar geschadet hat oder immer noch schadet?

Ich will an das Sozialwort der Kirchen aus dem Jahre 1997 erinnern. Darin heißt es:

„Eine gerechte Gesellschaft baut auf den beiden sich ergänzenden Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität auf. Sie bringen zum Ausdruck, daß der Mensch eine einmalige Person und als solche zugleich ein soziales Wesen ist."

Weiter heißt es:

„In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen Ethik muß darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität."

Meine Damen und Herren,

Neiddebatten helfen uns nicht weiter und ich will mich auch nicht daran beteiligen. Aber Solidarität der Besserverdienenden – die ist wichtig. Es muss deshalb weiter die Frage nach der ethischen Richtigkeit der Fundamente gestellt werden, auf denen unser Wirtschaftssystem aufgebaut ist.

Die sicher nicht gewollte, aber dennoch wirksame und erkennbare Zerrkraft des EU-Binnenmarktes sprach ich bereits an. Die unverantwortliche, gewinngierige Rolle einiger Akteure des Finanzsystems im Rahmen der Staatsschuldenkrise muss uns alle fassungslos machen.

Die internationale Finanzwirtschaft ist mittlerweile Teil des Problems, nicht der Lösung. Einst waren Bänker und Bankbeamte ehrliche und risikobewusste Geldverwalter, die mit dem Geld ihrer Kunden, solide Zinsen und Erträge erwirtschaftet haben. Heute dominiert eine Mentalität des „Risiko ist geil". Mit der beruhigenden Sicherheit im Hinterkopf, dass im Fall des eigenen Scheiterns der Steuerzahler gerade steht.

Gabor Steingart beschrieb dieses System 2011 in seinem Buch "Das Ende der Normalität" einmal mit folgenden Worten: "Der eine leiht dem anderen Geld, das er selbst nicht besitzt. Das hat er sich bei einem Dritten besorgt, der versprach, es bei einem Vierten zu holen".

So bitte nicht mehr, Schluss damit! Allerdings tut sich ie Politik schwer mit dieser Debatte, denn sie ist letztlich auch Partei. Es sind nicht nur die schwerfälligen Entscheidungsmechanismen auf europäischer und internationaler Ebene, die etwa die Erhebung der Finanztransaktionssteuer so verzögert hat. Es hat auch damit zu tun, dass die Staatsfinanzierung ohne die Beteiligung von Banken nicht mehr denkbar wäre.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ausgehend von der oben beschrieben Gier, würde ich mir wünschen, dass wir uns bewusst werden, dass nicht das „Immer-Mehr" unser Bezugspunkt sein sollte, sondern das „Immer besser".

Denn billig ist viel teurer als es ausschaut. Und es ist sogar gefährlich. Das jüngste Beispiel ist der Skandal um chemiebelastetes Pferdefleisch in diversen Lebensmitteln in ganz Europa. Wer glaubt, für einen Euro und ein paar zerquetsche Cents hochwertige Nahrungsmittel zu erhalten, der wurde eines Besseren belehrt. Auch hier hat der EU-Binnenmarkt wieder einmal sein hässliches Gesicht gezeigt.

Bei dieser Debatte – nämlich der Reform unseres Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, das uns in die Schuldenfalle geführt hat, könnte uns Griechenland helfen. Jetzt mögen viele von Ihnen fragen: Ausgerechnet die Griechen, die uns doch mit ihren vielen Schulden in diese Lage gebracht haben?

Ja, durchaus. Denn sie mussten notgedrungen lernen, sich mit weniger zu bescheiden. Heute ist Griechenland ein Symbol. Es ist nicht nur ein Symbol für die Bereitschaft der Europäer, solidarisch zueinander zu stehen. Es ist auch ein Symbol dafür inwieweit wir es schaffen, uns neu zu erfinden.

Denn es ist ja nicht nur Griechenland, das über seine Verhältnisse gelebt hat. Auch in Frankreich gibt es gigantische Staatsschulden, ebenso in Deutschland. Wir leben alle über unsere Verhältnisse.

Was wir jetzt eigentlich bräuchten, ist Selbstgenügsamkeit.

Die Erfindung von Selbstgenügsamkeit ist übrigens nicht jüngsten Datums. Sie war ein Grunpfeiler der Gesellschaft im antiken Hellas.

Die klassischen hellenischen Werte könnte neben dem Christentum als Fundament Parameter eines griechischen und eines europäischen Neuanfangs sein.

Lassen sie mich fünf wichtige Werte für eine Neuerfindung unserer Gesellschaft aufzählen:

1) Mehr Selbstgenügsamkeit wagen: Die enormen Schuldenberge sind Ausdruck einer Geisteshaltung, die wirklichen Genuss mit einem bloßen "Mehr ist besser" verwechselt. Anstatt auf Qualität zu achten, scheint nur noch schnöde Quantität zu zählen. Wir brauchen eine neue Kultur der Selbstgenügsamkeit: Warum es besser ist, sich auf das Wesentliche zu beschränken und bewusst zu genießen, lehrt die Philosophie von Epikur und Aristoteles.

2) Mehr Glück wagen: Was ist eigentlich das richtige Ziel von Wirtschaftswachstum? Immer nur mehr? Wachstum darf nicht zum Selbstzweck werden. Stattdessen müssen wir mehr auf den Glücksfaktor achten.

3) Mehr Freiheit wagen: Überregulierung und der Gesetzesdschungel kosten ersticken die Eigeninitiative der Bürger und kosten pro Jahr Milliarden Euro. Deshalb: Weg mit der Staatskrake, stattdessen muss die Eigenverantwortung und die Freiheit der Bürger gestärkt werden.

4) Mehr Demokratie wagen: Ausdruck des schwindenden Gemeinschaftsgefühls ist eine zunehmend von den Menschen abgehobene Politik, die anderseits durch extreme Gefälligkeit und Klientelismus Wählerstimmen erschwindelt. Diese Politik hat Griechenland, aber auch Italien in den Schuldensumpf geführt. Deshalb: Politik muss wieder von unten kommen. Hellas kann zeigen, wie wir erfolgreich mehr Demokratie wagen können.

5) Mehr Gemeinsinn wagen: Europa hat das Gefühl dafür verloren, dass der Mensch ein Zoon politicon ist. Wir sind nicht alleine auf der Welt. Öffentliches Handeln braucht einen Ausgleich von Interessen, denn viele Menschen haben vergessen, dass ihr Handeln Auswirkungen auf Dritte hat. Wir brauchen in Europa eine neue Kultur des gegenseitigen Respekts und des Miteinander. Das Gemeinwohl und der Gemeinsinn muss wieder einen zentralen Platz in unser alle Handeln einnehmen.

Im Zusammenspiel könnte man den antiken Wertekanon als „Hellas-Faktor" bezeichnen.

Griechenland könnte gerade in der seiner jetztigen Krise stellvertretend für alle Europäer auf der Grundlage seines antiken Erbes, eine nachhaltige Gesellschaft neu erfinden. Ein derart erneuertes Griechenland könnte dann am Ende ganz vorne sein, getreu dem Bibelwort: Die Letzten werden die Ersten sein.

Schon einmal hat ja die Kultur des klassischen Hellas' das heutige Europa entscheidend geprägt. Seit der Antike diente die hellenische Kultur als kultureller Wegweiser und gab entscheidende Impulse. Fast jeder, der in Kontakt mit Hellas kam, erlag seiner Anziehungskraft. Mit der Renaissance kam es im Kerneuropa zu einer Neubesinnung auf dieses vergessene Kulturgut.

Nötig dazu ist aber gegenseitiger Respekt gegenüber unseren europäischen Nachbarn. Anstatt über sie zu reden, sollten wir mit ihnen reden. Und so gemeinsam die richtigen Lösungen finden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

"Europa um jeden Preis – Was ist uns Europa heute noch wert?" war die Ausgangsfrage, die uns hier zusammengeführt hat.

Würde ich den Hellas-Faktor auch global sehen, dann könnte ich mir jetzt wünschen: Wenn die Hellenen mit den oben genannten Tugenden Europa erneuern, warum sollten dann nicht die Europäer in Fortsetzung dessen für einen tugendhafteren Globus sorgen. Ansätze hierfür gibt es ja schon, denken Sie an die Weltklimaziele, die maßgeblich von den Europäern vorangetrieben und geprägt wurden.

Ein glaubwürdiges Europa könnte dann tatsächlich der Schlüssel sein für eine Neuorientierung dieser Welt, mit anderen Maßstäben als reiner Materialismus. Wenn dem so wäre, dann müsste uns Europa lieb und teuer sein, dann müssten wir auch bereit sein, einen hohen Preis für seinen Erhalt zu zahlen.

Die Salvatorkirche ist ein Ort des Glaubens. Ich möchte daran glauben, dass es sich lohnt, diesen Weg zu gehen. Jedenfalls will ich persönlich dazu beitragen, dass Hellas sich wandelt und dass der Hellas-Faktor sich wieder entfalten kann.

Meine Damen und Herren, liebe Gemeinde,

wir brauchen mehr Resprekt voreinander in Europa. So wie in einer Gesellschaft hat auch in der europäischen Familie jedes Land, jede Kultur ihren eigenen Wert.

Auch das Sozialwort der Kirchen aus dem Jahre 1997 äußert sich indirekt zu diesem Themenkomplex und sagt zum Maßstab der Solidarität:

„So kommt im Grundsatz der Solidarität ein grundlegendes Prinzip der Gesellschaftsgestaltung zur Geltung. In ihm schlägt sich die Einsicht nieder, dass in der Gesellschaft "alle in einem Boot sitzen" und daß deshalb ein sozial gerechter Ausgleich für das friedliche und gedeihliche Zusammenleben unerlässlich ist. Dies gilt sowohl im Inneren einer Gesellschaft wie auch in dem umfassenderen Horizont der Einen Welt."

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde,

Die EU hat den Friedensnobelpreis verdient. Allerdings müssen wir erst noch zeigen, dass wir den Geist der Präambel unserer Verfassung nachhaltig und überzeugend mit Leben füllen können.

Denn, so heißt es ja in der Erklärung des Nobelpreiskomitees:

"Die EU erlebt derzeit ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten und beachtliche soziale Unruhen. Das Norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als die wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens."

Frieden, geeint und in Vielfalt. Das ist Europas Zukunft! Das Beste liegt noch vor uns. Wenn wir gemeinsam an Europa arbeiten.

Ich wurde gebeten, einen Zweck zu bestimmen, für den das Geld der heutigen Kollekte sein soll. Ich habe ohne zu zögern, das Projekt der SOS Kinderdörfer in Griechenland vorgeschlagen.

Danke für die Einladung und für Ihre Aufmerksamkeit!

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Salvatorkirche Duisburg, 24. Februar 2013