Kampf gegen Armut, JETZT!

europaROT - Die Zeitung der LINKEN im Europaparlament

06.05.2010

Leitartikel von Gabi Zimmer, Jürgen Klute und Thomas Händel

Brüssel im März, die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten treffen sich zum Frühjahrsgipfel. Kommissionspräsident Barroso präsentiert seinen Entwurf für die Europa-2020-Strategie – im Wesentlichen ein Aufguss der vor zehn Jahren beschlossenen Lissabonstrategie.

Diese hatte zum Ziel, für Wachstum und Wohlstand, mehr Klimaschutz und soziale Sicherheit zu sorgen – stattdessen aber stiegen Armut und soziale Unterschiede in der EU immer weiter an.

Weder das Scheitern der alten Lissabonstrategie noch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise führten zu einer neuen Denkweise. Im Gegenteil: In Folge der Finanzkrise werden in Griechenland, in Irland und vielen süd- und osteuropäischen Mitgliedstaaten brutale Spar- und Kürzungsprogramme eingeleitet. Bis heute gibt es keine soziale Fortschrittsklausel in den geltenden EU-Verträgen und der Europäische Gerichtshof macht regelmäßig durch gewerkschaftsfeindliche Urteile von sich reden.

Kurzum: Von einem sozialen Europa sind wir weit entfernt. Stattdessen werden sozialpolitische Errungenschaften und Arbeitnehmerrechte in der EU weiter einplaniert. Wenige Stunden vor dem EU-Gipfel zur 2020-Strategie: Kanzlerin Merkel, Europas neue »Eiserne Lady«, wettert in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag gegen verbindliche EU-Ziele im Kampf gegen Armut.

Dieser sei eine nationale Angelegenheit, eine rein sozialpolitische Aufgabe, und ihre Beseitigung liege nicht in der Kompetenz der EU. Beim EU- Gipfeltreffen am Tag darauf folgen ihr die anderen Regierungschefs in dieser Frage widerspruchslos. Das von der EU-Kommission zaghaft im Entwurf der Europa-2020-Strategie formulierte Ziel, Armut um 25 % zu reduzieren, lehnen die Mitgliedstaaten ab. Die soziale Dimension der EU bleibt eine hohle Formel.

Umsteuern statt Werbekampagnen!

Was steckt also hinter dem von der EU erst kurz zuvor fröhlich ausgerufenen »Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010«? Wenn es nach den Regierenden geht, kaum mehr als eine Alibifunktion und nette Worte. Werbeslogans wie »Mit neuem Mut« sollen Armut »ins Bewusstsein« der Menschen rücken. Die Botschaft der EU-weiten Werbekampagne: Armut gehört heute zum Alltag, jeden kann es treffen, stigmatisieren dürfe man aber bitteschön niemanden.

Der seit Jahren versprochene Kampf gegen Armut lässt ebenso auf sich warten wie das dringend notwendige Engagement gegen den Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt.
Tatsächlich braucht es keine Alibi- Kampagnen in der EU, um Armut sichtbar zu machen: In einer der reichsten Regionen der Welt sind heute über 80 Millionen Menschen offiziell von Armut betroffen, das heißt ihr Einkommen liegt deutlich unterhalb von 60 % des nationalen Durchschnittslohns bzw. -einkommens des jeweiligen Mitgliedstaates. Allein 19 Millionen von ihnen sind Kinder. Auch Frauen, ältere und junge Menschen, MigrantInnen, Roma oder Menschen ohne Papiere sind besonders betroffen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind in erster Linie in einer gesellschaftlichen Strategie und Politik zu suchen, die auf ungebremstes Wirtschaftswachstum setzt, Menschen und selbst Kinder nur als Wirtschaftsfaktoren betrachtet, soziale und ökologische Grundrechte von Menschen lediglich als hemmend für die Auseinandersetzung um Märkte und Standortfaktoren einstuft.

Kampf gegen Armut ist Menschenrechtspolitik

Der Kampf gegen Armut ist für uns zuerst ein Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte, die für jede und jeden gelten. Diese Aufgabe lässt sich nur gemeinsam bewältigen. Wir meinen deshalb: Politikbereiche müssen wirksam ineinandergreifen. Entwicklungs-, Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltpolitik müssen auf die Durchsetzung des Rechtes auf würdige Lebens- und Arbeitsbedingungen für jeden Menschen abzielen – egal in welchem Teil unserer Welt, egal in welcher Region Europas er oder sie lebt.

Armut bedeutet sehr viel mehr als Geldnot, Hunger und Obdachlosigkeit. Wer Armut beseitigen will, muss gleichzeitig auch gegen gesellschaftliche Ausgrenzung, Umweltzerstörung, Bildungsnotstand und Krankheiten vorgehen und den Zugang zu sauberem Wasser, das Recht auf Wohnen und Energie durchsetzen. Bei der Vorlage des diesjährigen UN-Berichts zur sozialen Lage in der Welt wurden die Regierungen aufgefordert, Armut neu zu denken (»Re-thinking poverty«) und alle Lebensbereiche in den Kampf gegen Armut einzubeziehen, die Rechte von Menschen auf notwendige hochwertige Dienstleistungen, Infrastruktur und Grundversorgungen umzusetzen.

Wirtschaftswachstum führt nicht automatisch zur Schaffung von »Guter Arbeit« und zur Reduzierung von Armut. Armut lässt sich nicht allein über Transferleistungen oder über den karitativen Wohlfahrtsstaat beseitigen. In der Politik der meisten EU-Mitgliedstaaten hat sich aber ein solch umfassender Ansatz noch nicht durchgesetzt.

Selbst in der Bundesrepublik Deutschland existieren soziale Mindeststandards nur im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt. Und eine Debatte darüber, was Menschen brauchen, um in Würde leben zu können, was also zu einer würdigen Grundversorgung gehört, wie sich armutsfeste soziale Mindeststandards ermitteln lassen, befindet sich noch in den Anfängen.


Aus unserer Sicht ist es an der Zeit, universellen Zugang zu allen Dienstleistungen in Gesundheitsversorgung, Bildung, Versorgung mit Wohnraum und Energie zu ermöglichen. Jede politische Entscheidung muss der Frage standhalten, welche sozialen Folgen sie nach sich zieht.

In aller Konsequenz gedacht, befördert ein solcher Ansatz im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung die Idee der EU-Citizenship – einer EU-Bürgerschaft – und als Vision die Idee einer universellen Bürgerschaft, die mit der Gewährung aller grundlegenden Menschenrechte über alle Grenzen hinweg verbunden ist.

Mit der im Lissabonner Vertrag auf- genommenen EU-Grundrechtecharta wurde jedoch die Chance vertan, konsequent die Idee des Schutzes der Schutzbedürftigen – der Ausgangsidee der Deklaration der Menschenrechte – zu verfolgen. Der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung als unverzichtbarer Teil für die Gewährung der universellen Menschenrechte ist in der EU noch nicht angekommen.

Armut weltweit bekämpfen

Wer nichts gegen globale Armut unternimmt, sondern eher noch die Folgen des mitverschuldeten Klimawandels sowie die Lasten der inter- nationalen Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Ärmsten der Armen abwälzt, ist auch nicht in der Lage, eine klare und verbindliche Strategie zur Armutsbeseitigung in den eigenen Staaten und in der EU zu entwickeln und auf den Tisch zu legen.

Als Linke heißt das für uns: In unseren politischen und parlamentarischen Forderungen, in unseren Aktionen, die wir gemeinsam mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen unternehmen, geht es stets um ein gemeinsames Denken und Handeln von der lokalen bis hin zur globalen Ebene.

Weltweit leben mehr als 80 % der Menschen außerhalb sozialer Sicherungssysteme. Die Zahl der Menschen, die als »Klimaflüchtlinge« ihre Regionen in Entwicklungsländern infolge des Klimawandels verlassen müssen, erhöht sich inzwischen drastisch. Täglich hungern in der Welt 1 Milliarde Menschen. Täglich sterben fast 16.000 Kinder an den Folgen von Hunger und Unterentwicklung.

Wir bekräftigen als Linke im Europaparlament unsere Forderungen nach einer neuen Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsstrategie der EU ebenso wie die nach einem Moratorium für alle bestehenden und in den Verhandlungen befindenden Verträge der EU mit Entwicklungsländern, die nicht der nachhaltigen Entwicklung und dem Ziel der Durchsetzung der MDG (Millennium Entwicklungsziele) dienen. Gerade im Europäischen Jahr gegen Armut und im UN-Jahr der Biodiversität fordern wir darüber hinaus verbindliche Verpflichtungen der EU-27 zum Kampf gegen den Klimawandel, zum Erhalt und Schutz von Umwelt und natürlichen Ressourcen, für deutlichere Ziele bei der Senkung der CO2-Emissionen, für eine völlige Neuausrichtung der Migrationspolitik – alles wichtige Bedingungen zur Ausmerzung der globalen Armut.

Diese Forderungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit notwendigen politischen Schritten zum Kampf gegen Armut in Europa, in unseren Ländern und Regionen. Neben dem Aufbau wirksamer sozialer Sicherungssysteme in allen Mitgliedstaaten der EU und Armut verhindernden finanziellen Transferleistungen geht es gleichermaßen um den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Kultur, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnen, ÖPNV, ausreichender Energieversorgung. Auch braucht es die tiefgreifende Demokratisierung und einen drastischen ökologischen Umbau unseres Alltags.

Ein Beispiel: Menschen, vor allem von Armut Betroffene, müssen mitentscheiden können, woher sie ihre zum Leben notwendige Energie be- ziehen, ob es sich dabei um regional produzierte, regenerative Energie handelt und zu welchem Preis sie diese erhalten. Solange Strom an der Börse gehandelt wird und die Netze von den Konzernen kontrolliert werden, ist dies nicht möglich.

Um Armut zu bekämpfen, braucht es verbindliche und konkrete Ziele. Warum aber sollen diese nicht zwischen den Regierungschefs der EU vereinbart, durch die Länder und die Kommission umgesetzt und durch die Parlamente auf regionaler und nationaler und durch das Europaparlament jeweils mit entschieden und kontrolliert werden?

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