Die Zeit läuft, Merkel schnarcht weiter

KOMMENTAR von Jürgen KLUTE/ Hanna PENZER/ Karsten PETERS, in DISPUT 08/2010

17.08.2010

Schon Goethe wusste: Getretener Quark wird breit, nicht stark. Trotzdem kocht dieser Tage die Regierung Merkel ihr Süppchen zur Finanzmarktregulierung nach demselben Prinzip. Der vorläuige Höhepunkt schlechter Symbolpolitik wurde den Bürgerinnen und Bürgern im Mai diesen Jahres serviert: Die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) spricht für einen begrenzten Zeitraum ein Verbot ungedeckter Leerverkäufe von Aktien einzelnder deutscher Unternehmen aus. Ein Schritt, der viel verspricht und nichts hält - breit getrener Quark sozusagen - denn: Innerhalb des europäischen Binnenmarkts gilt der freie Kapitalverkehr. Wer will, kann sein Vermögen ohne bei jeder Bank innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums anlegen. Und in aller Regel öffnen die Länder auch bereitwillig ihre Türen, wenn das große Geld anklopft.

Absurd also: Ein Verbot, bei dem die Anleitung zur Umgehung bereits in europäischem Verfassungsrecht vorliegt. Noch absurder: Ein Verbot, bei dem die BaFin-Hüter ohnehin kaum etwas zu überwachen haben werden. Denn nahezu der gesamte europäische Handel mit Papieren, die bei hohem (gesamtgesellschaftlichem) Risiko hohe (private) Gewinne versprechen, wird heute weder in Frankfurt, Paris oder Stuttgart abgewickelt, sondern an der Börse in London. Hier, in der „City of London", können Händler aus der gesamten EU und darüber hinaus weiter ungestört mit gedeckten und ungedeckten Leerverläufen, Derivaten und anderen, so genannten, giftigen Finanzmarktprodukten handeln, ohne dass die deutsche Finanzmarktaufsicht auch nur einen Finger rühren dürfte.

Ein weiterer Grund, wieso Merkel-Lösungen nicht mehr als hochgezogene Augenbrauen und müdes Lächeln hervorgerufen haben: Zum jetzigen Zeitpunkt läuft nur ein kleiner Teil des Handels mit Vermögenswerten überhaupt auf den offiziellen, dafür vorgesehen Spielstätten. Gerade risikoreiche Papiere werden heute in aller Regel nicht amtlich regisitriert und unter Beobachtung der Öffentlichkeit an der Börse gehandelt, sondern "unter dem Ladentisch", d.h. meist im digitalen Direkthandel, wo weder Käufer noch Verkäufer ihre Identität offenlegen müssen. Über den Umfang dieser gigantischen, "zweiten" Finanzwelt gibt es bislang nur Schätzungen. Solange dieser Zustand nicht als politisches Problem begriffen wird, verpuffen nicht nur ohnehin zahnlose Bluff-Regulierungen. Auch das ehrgeizige Projekt der Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen bliebe halbgar.

Will man aus dem Verhalten der Regierung Merkel eine Strategie herauslesen, kommt man zu folgendem Schluss: Die Kanzlerin und ihr Finanzminister Schäuble werden nicht müde, scharfe Regeln als Lehren aus der Krise einzufordern. Für real wirksame Reformen krümmt sie leider bisher keinen Finger. So hat sich die Kanzlerin auch beim G 20-Gipfel nach eigenen Worten für eine internationale Finanztransaktionssteuer stark gemacht, um auf diesem Weg die Verursacher an den Kosten der globalen Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise zu beteiligen. Nur: Auf Weltebene dürfte eine Finanztransaktionssteuer auf absehrbare Zeit nicht durchzusetzen sein.

Möglich wäre sie aber auf EU-Ebene. Es gibt aus dem Parlament einen Auftrag an die EU-Kommission, die Einführung einer solchen Steuer zu prüfen und Vorschläge für eine Umsetzung zu machen. Deutschland als mächtigstes EU-Mitgliedsland könnte dieses Vorhaben über den Europäischen Rat, die EU-Institution der nationalen Regierungen, aktiv unterstützen. Doch hier fallen die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister eher durch Kohl'sches Aussitzen auf. Wenn bei konkreten Verhandlungen im Rat Tacheles geredet wird, kommt vom deutchen Stuhl meist nicht mehr als ein „Njet!".

Nach jahrelangem Druck des Europäischen Parlaments hat die EU-Kommission etwa vor einem Jahr etwa zwei zentrale Gesetzesvorschläge vorgelegt, auf denen sich aufbauen ließe. Vorgesehen ist damit erstmals eine europaweite Regulierung des Handels mit den - bisher völlig unregulierten - Hedge-Fonds sowie von Kapitalbeteiligungsgesellschaften (Private Equity), sowie die Einrichtung einer europaweiten Finanzaufsicht. Nach fraktionsübergreifender Detailarbeit im Wirtschaftsausschuss liegen hier Vorschläge vor, die kleine, bescheidene Schritte darstellen würden, um eine Handlungsfähigkeit der Politik gegenüber der Finanzindustrie wiederherzustellen.

Das Parlament fordert grundlegende Standards ein. Etwa: Steigen Kapitalfonds in mittelständische Unternehmen ein, müssen Belegschaftsvertreter informiert werden. Sollen an Kunden in St Tropez oder Hamburg Fonds verkauft werden, die in der Karibik registriert sind, müssen die dortigen Behörden fähig und willig sein, mit den neuen EU-Aufsichtsbehörden zusammenzuarbeiten. Und: Schlägt der neue Ausschuss für Systemrisiken die Alarmglocke einer ernsthaften Krisengefahr, können einzelne Finanzinstrumente, zeitlich begrenzt, aber europaweit vom Markt genommen werden.

Bei Kommission und Parlament gehen die Meinungen über die Schärfe der Regulierung auseinander, aber der grundsätzliche Wille zu einer Regulierung ist vorhanden. Nur der Rat schert aus. Der Rat als Vertretung der Regierungen der Mitgliedsländer und hat bei der Gesetzgebung etwa das gleiche Gewicht wie das Parlament, kann also die Umsetzung blockieren – und macht von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch. Insbesondere die Vertreter der britischen Regierung drängen – unter anderem mit aktiver Unterstützung der Bundesregierung – bei den Verhandlungen mit Kommission und Parlament auf einzelstaatliche Regelungen: Bei der Regulierung von Hedgefonds und Private Equity Fonds sowie bei der Bankenaufsicht sollen die EU-Regelungen möglichst wirkungslos bleiben. Zudem sollen Ausnahmeregelungen den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit eröffnen, EU-weite Regulierungen zu unterlaufen.

Damit wäre eine Regulierung aber nur noch Makulatur. Die Finanzmäkrte der EU-Mitgliedsländer sind durch den EU-Binnenmarkt weitgehend zu einem Finanzmarkt verschmolzen. Da jedes EU-Mitgliedsland mit seiner Rechtssetzungsmacht nur ein Teilgebiet des EU-Binnenmarktes regulieren kann, und eine Regulierung des Binnenmarktes durch 27 unterschiedliche Teilregulierungen zu keinen wirksamen Regulierungen führt (sondern im schlimmsten Fall zu einem Wettbewerb um die wirkungsloseste Regulierung), bleibt nur die Chance einer einheitlichen Regulierung auf EU-Ebene. Ein hoher Regulierungsstandard in Deutschland nutzt eben nichts, wenn der zu regulierende Wertpapierhandel vor allem in London stattfindet. Großbritannien würde eine Form der faktischen Nicht-Regulierung selbstverständlich nutzen, um den heutigen weitgehend regulierungsfreien status quo so gut es geht abzusichern. Und es würde fröhlich weiter gezockt. Schließlich macht der Finanzmarkt im Vereinigten Königreich bis zu 15 % der gesamten Wirtschaftsleistung aus – und darauf wird man eben nicht widerstandslos verzichten.

Da der Rat sich in mehr als einem Dutzend Verhandlungsrunden zwischen dem Europäischen Parlament, der EU-Kommission und dem EU-Rat als Blockierer einer wirksamen Regulierung erwiesen hat, hat das Parlament in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause über den Richtlinenvorschlag zur Finanzmarktaufsicht abgestimmt, den der Wirtschaftsausschuss des Parlaments (ECON) ausgearbeitet hat. Eine überwältigende Mehrheit von mehr als 600 der 736 Abgeordneten haben für den Vorschlag des ECON gestimmt. Im Herbst gehen die Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament in die nächste Runde. Es bleibt zu hoffen, dass Angela Merkel und ihre Kollegen und Kolleginnen das Signal aus Straßburg verstanden haben. Eine Regulierung, die Krisen wie die aktuelle verhindern kann, funktioniert nur, wenn sie auf europäischer Ebene verankert wird. Und dazu bedarf es einer wirksamen Regulierung.

Doch während sich Europas Regierungen sich darüber streiten, ob sie aus dem Ausbruch der Finanzkrise Lehren ziehen wollen, und ob die Verursacher dieser Krise an die Kasse gebeten werden sollen oder nicht, dreht die Welt sich längst weiter. Die Finanzbranche dreht sich derzeit ganz besoders um die vermeintlich schwächsten Mitgliedsländer der Eurozone.

Rettungsfonds und Abwrackprämien haben die Folgen der Krise für Banken und Exportkonzerne erfolgreich abgedämpft. Die Wirksamkeit von Konjunkturprogrammen und der Verkürzung der Arbeitszeit wurde – auch in Zeiten weltwirtschaftlicher Verflechtung – unter Beweis gestellt. Doch all das hat Unsummen verschlungen. Summen, die bislang auf den Schultern der Allgemeinheit gestapelt wurden. Ob durch Sozialabbau, eine neue Wachstumsdynamik, geregelte Geldentwertung oder durchgerechtere Steuern – auf die eine oder andere Art werden diese Schulden bezahlt werden müssen.

Doch dies ist nicht die Frage, die führenden Rating-Agenturen, Standard & Poors, Moodys und Fitch, derzeit stellen. Weil EU-Institutionen wie die Europäische Zentralbank ihren Mitgliedsländern offensichtlich nicht über den Weg traut, greift sie standardmäßig auf das Urteil einiger kleiner und windiger Rating-Agenturen zurück. Deren kreative Köpfe haben zwar bisher nicht beweisen können, in irgendeiner Art und Weise Krisen oder Fehlentwicklungen in einzelnen Unternehmen voraussehen zu können. Im Gegenzug mussten sie nicht lange überlegen, wie sie die von der EU offerierte Macht über das Schicksal ganzer Volkswirtschaften zum Nutzen spekulierender Finanzhaie nutzen konnten.

„Alle auf Griechenland!" – So lautete denn auch die denkbar simple, und doch wirksame Strategie, um frisches Geld zu erzocken. Reale Probleme – eine Währungsunion ohne Koordinierung und Solidarität; die Kosten einer ausgelösten Krise – treffen bei außer Kontrolle geratenen Profi-Anlegern und deren Handlangern, den mit staatlicher Macht ausgestatteteten Rating-Agenturen auf parasitäre Geschäftsstrategien.

Die Eurozone gilt seit jeher als relativ wackliges Projekt, weil sich hier zwar viele enorm wirtschaftskräftige Staaten zusammengetan und eine gemeinsame Währung aus der Taufe gehoben haben. Aber diese Staaten haben keine gemeinsame Wirtschafts- und Steuerpolitik, nur eine gemeinsame Währungspolitik. Nur so ist es möglich, dass die deutsche Exportwirtschaft sich seit Beginn der Währungsunion dumm und dusselig verdienen kann, indem den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jede Beteiligung an massiven Profiten über ein angemessenes Lohnwachstum verweigert wird. Die Nationalstaaten haben bei Eintritt in den EURO-Club wichtige wirtschaftspolitische Instrumente abgegeben, während in Brüssel keine gemeinsamen Instrumente geschaffen wurden, und die bestehenden in den Händen der Europäischen Zentralbank liegen, die nicht auch Wohlstand und Arbeitsplätze verpflichtet ist, sondern einzig und allein auf die Sicherung des Geldwertes.

Eine koordinierte Spekulationsattacke auf Verschuldungstitel des griechischen Staates zwang dem Mittelmeerland horrende Zinsen auf, die nun – in der Talsohle einer schweren Rezession – von den Bürgerinnen und Bürgern bezahlt werden sollen. Flankiert wurde der Spekulanten-Angriff von den drei großen Ratingagenturen. Die EU reagiert nun mit massiven Sparprogrammen auf die Finanzkrise. Ländern wir Griechenland hilft diese Politik aber nicht. Die Ratingagenturen haben Griechenland weiter herausgestuft – letztlich wegen der Sparmaßnahmen, da diese die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit noch weiter nach unten drücken.

Der Fall Griechenland zeigt: 1. Die Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise wurden und werden einzig und alleine den Bürgerinnen und Bürgern aufgezwungen. 2. Die Finanzmärkte sind weiter außer Kontrolle. Und 3. Es geht auch um Zeit: Wenn die EU-Regierungen nicht gegensteuern und ernsthafte Regulierungsantrengungen der Märkte unternehmen, öffnen sich neue Baustellen, ehe sie begreifen was gerade vor sich geht. Rating-Agenturen gehören unters Messer, ihre Macht über Volkswirtschaften ist durch nichts zu rechtfertigen.

In der Tagespolitik heitß das: Ohne eine Finanzmarktregulierung auf EU-Ebene wird sich auf die Schnelle nicht viel ändern. Selbstverständlich wäre es hilfreich, wenn eine globale Regulierung gefunden würde. Aber die EU hat eine so große wirtschaftliche Bedeutung, dass der Umfang der gewünschten Geschäfte kaum zurückgehen wird. Die wilden Spekulationen können hingegen ausgebremst werden. Damit sind wir zwar noch nicht im Sozialismus angekommen. Aber es wäre ein wichtiger Schritt in Richtung einer gerechteren und besseren Welt, wenn die wilden Spekulationen auf EU-Ebene unterbunden werden können und somit z.B. die Renten der Arbeiter und Arbeiterinnen vor einer Vernichtung durch Spekulationen geschützt werden. Wenn Europa hier mit gutem Beispiel vorangeht, werden andere Regionen nachziehen müssen.

Sobald die Bundesregierung aufhört, breit getretenen Quark zu produzieren, dann kann sie ihren Lippenbekenntnissen durch entsprechendes Handeln auf EU-Ebene reale Schritte folgen lassen. Da sie dazu aber nicht bereit ist, bedarf es weiterhin eines starken Drucks von links auch auf deutscher Ebene!

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