Europas Regionen haben besseres verdient - Wohin steuert die europäische Förderpolitik ?

BEITRAG und BROSCHÜRE von CORNELIA ERNST zur EU-KOHÄSIONSPOLITIK nach 2013

20.07.2013

Ich erinnere mich daran, wie unsere portugiesischen GenossInnen in der Fraktionssitzung erzählten, dass alle portugiesischen Europaabgeordneten vom Ministerpräsidenten einbestellt wurden, um ihr Abstimmungsverhalten zu beeinflussen. Italienische Europaabgeordnete berichteten von Erpressung und Drohungen, bei Ablehnung des Mehrjährigen Budgets nicht wieder aufgestellt zu werden. Britische Abgeordnete, die Skepsis äußerten, wurden in den lokalen Medien zerrissen.

In fast allen Mitgliedsstaaten „entdeckten" die Regierungen „ihre" Europaabgeordneten – Merkel schrieb in einem internen Papier, dies sei alles gar kein Problem und die Europaabgeordneten würden schon in die richtige Richtung „umfallen". Sogar das kleine Sachsen zog mit. Ich erhielt einen Brief des Ministerpräsidenten, der mich ob meines Engagements für Sachsen hoch lobte und dann aufforderte, dem Mehrjährigen Finanzrahmen zuzustimmen. Der Sächsische Justizminister lud uns in Brüssel zu einem Arbeitsfrühstück ein und erklärte danach, wir würden seine Position zum Budget teilen. Dies brachte ihm selbstverständlich parteiübergreifend unsere öffentliche Schelte ein.

Warum dieser Druck von Seiten der Regierungen auf die Europaabgeordneten? Es ging darum, die notwendige Zustimmung der Europaabgeordneten zum zukünftigen Mehrjährigen Finanzrahmen 2014 - 2020 zu erhalten, der von den Staats- und Regierungschefs am 8. Februar 2013 vorgelegt wurde.

Der aktuelle Finanzrahmen 2007 - 2013 umfasst ca. 1 Billion Euro, davon entfällt auf die europäische Fördermittelpolitik ca. ein Drittel (347 Mrd. Euro). Diesen Mehrjährigen Finanzrahmen abzulehnen war ein „Akt der Selbstachtung des Parlaments". Denn der Haushaltsvorschlag des Europäischen Rates, der sämtliche Forderungen des Parlamentes in den Wind geblasen hatte, und jenseits jeder fiskalischen Seriosität angesiedelt ist, ist ein Angriff auf die ohnehin schon schwachbrüstige Demokratie auf europäischer Ebene. Dem Parlament, das nicht die volle Hoheit über das Mehrjahres-Budget hat, wurde ein Vorschlag serviert, der die Handschrift der deutsch-britischen Nationalisten Merkel und Cameron trägt. Es wurden Kürzungen um jeden Preis vorgeschlagen – trotz der kommenden EU-Erweiterung durch Kroatien im Juli 2013 und trotz der alarmierend hohen Arbeitslosigkeit und Armut sowie der schrumpfenden Wirtschaft in der Europäischen Union. Der Mehrjährige Finanzrahmen, so wie vom Europäischen Rat vorgeschlagen, würde erstmalig in der Geschichte der EU eine Kürzung des Gesamthaushaltes darstellen.

Nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs würden dann auch ca. 30 Mrd. Euro weniger für die europäische Fördermittelpolitik eingeplant. Das entspricht einer Kürzung von 8,4 % in diesem Bereich. Das ist natürlich angesichts der herrschenden Wirtschaftskrise eine Katastrophe, denn die Regionen brauchen nun die europäischen Fördermittel mehr denn je, für Investitionen in kleine und mittlere Unternehmen, den Aufbau von Infrastruktur und Weiterbildungsmaßnahmen.

Und so zeigte am 13. März 2013 das Europäische Parlament, dass es kein „Durchwinkparlament" ist und lehnte den vorgeschlagenen Mehrjährigen Finanzrahmen mit großer Mehrheit ab. Es betonte in seiner Resolution seine Bereitschaft, umfassende Verhandlungen mit dem Rat aufzunehmen und einen Mehrjährigen Finanzrahmen zu verabschieden, mit dem Wachstum und Beschäftigung geschaffen werden kann.

Ich bin stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Regionale Entwicklung im Europäischen Parlament und habe während der vergangenen zwei Jahre an der Reform der europäischen Fördermittelpolitik mitgearbeitet. Für die linke Fraktion GUE/NGL im Europaparlament stehe ich für eine Fördermittelpolitik, die mit ausreichenden Finanzmitteln ausgestattet ist und die auch weiterhin allen Regionen zugute kommt. Ich erinnere daran, dass in den letzten 20 Jahren besonders die ostdeutschen Bundesländer stark von den EU-Fördermitteln profitiert haben. Viele Projekte und Maßnahmen wie die Förderung der gewerblichen Wirtschaft, insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen, die Förderung von Innovation und Forschung & Entwicklung, Infrastrukturmaßnahmen, Schutz und Verbesserung der Umwelt, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, Projekte zur Förderung der Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen, Migrantenprojekte usw. wären so nicht möglich gewesen.

Seit 1991 unterstützt die EU im Rahmen ihrer Strukturförderung den Aufbau in Ostdeutschland. Die Mittel aus den europäischen Fonds werden durch Mittel und Programme des Bundes und der Länder ergänzt (die sogenannte Kofinanzierung). Von 2007 - 2013 erhält Deutschland insgesamt ca. 26,3 Mrd. Euro. Die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind bis Ende 2013 in der höchsten Förderkategorie eingeordnet und erhalten mit rund 15,5 Mrd. Euro den größten Teil der auf Deutschland entfallenden Strukturfondsmittel.

Das Tauziehen, das sich aufgrund des Mehrjährigen Finanzrahmens zwischen den
Staats- und Regierungschefs auf der einen Seite und dem Europäischen Parlament auf der anderen Seite abspielte, zeigt auch, wie reiche gegen arme Mitgliedstaaten in Stellung gebracht werden. Eine Gruppe reicherer Mitgliedstaaten (Deutschland, Österreich, Finnland, Frankreich, Italien, Niederlande und Schweden) setzt sich dafür ein, dass die Regionen in den Mitgliedstaaten keine oder weniger Fördergelder erhalten sollen, wenn der entsprechende Mitgliedstaat die europäischen Verschuldungsgrenzen nicht einhält.

Dieser Bestrafungsmechanismus soll sozusagen automatisch einsetzen und kann im konkreten Einzelfall im Rat der EU nur mit einer qualifizierten Mehrheit verhindert werden. Hier wird das Prinzip der Solidarität, das Bestandteil der Kohäsions- und Fördermittelpolitik ist, aufgegeben, und die Grundidee der Fördermittelpolitik, – nämlich der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt – wird konterkariert. In den verschiedenen Verhandlungsrunden im Regionalausschuss und mit dem Rat der EU und der Europäischen Kommission haben wir dies immer wieder kritisiert und darauf hingewiesen, dass die Fördermittel- und Kohäsionspolitik für die Menschen da sein und sich an den Entwicklungsbedürfnissen der Regionen orientieren muss. Die Fördermittelpolitik ist eben KEIN Mittel zur Erfüllung der rein wettbewerbsorientierten Europa 2020-Strategie, sondern ein eigenständiger Politikbereich mit einer eigenständigen Berechtigung. Dies spiegelt sich auch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union wider: Artikel 174 schreibt ganz klar vor, dass die Union eine Politik zur Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts verfolgt und eine harmonische Entwicklung der Union fördern soll. Insbesondere sei es das Ziel der Union, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen zu verringern. Und nun sollten wir den Vertragstext beim Wort nehmen und die europäische Fördermittelpolitik erhalten und ausbauen, und nicht plündern und für andereZwecke missbrauchen.

Diese Diskussion ist eng mit der Frage verbunden, wohin sich die EU künftig bewegen soll und welche Art der europäischen Integration wir wollen. Die EU ist kein linkes Projekt, sowenig wie die Bundesrepublik selbst als solches gegründet wurde. Die Zukunft der EU wird wesentlich davon abhängen, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union noch eine Perspektive zusprechen.

Merkel und Konsorten haben die EU längst zum Spielball ihrer nationalen Interessen gemacht. Dabei dürfen wir nicht zusehen und müssen eine Strategie für eine „europäische Integration von unten" entgegensetzen. Dazu gehört, für eine Fördermittelpolitik zu streiten, die mit ausreichenden Finanzmitteln ausgestattet ist, und die ihren Fokus vor allen Dingen auf die ärmsten Mitgliedstaaten in der EU richtet. Beispielsweise haben Bulgarien und Rumänien ein Bruttoinlandsprodukt, das nur ca. 30 % des durchschnittlichen EU-Bruttoinlandsprodukts beträgt. 24 % der Menschen in der EU sind von Armut bedroht (über 120 Millionen), darin eingeschlossen sind 27 % der Kinder, die von Armut bedroht sind. 20 % der über-65-Jährigen und 9 % der Menschen, die Arbeit haben, gehören ebenfalls zu dieser Gruppe. Fast 9 % aller Menschen in der EU leiden unter starkem materiellem Mangel: das heißt, sie verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um eine Waschmaschine, ein Auto, ein Telefon zu bezahlen geschweige denn die Wohnung angemessen zu beheizen. Armutsbekämpfung ist zu einer der größten Herausforderungen der EU seit ihrem Bestehen geworden. Wenn unter solchen Voraussetzungen ein Mehrjähriger Finanzrahmen vorgeschlagen wird, der Kürzungen bis zu 8,4 % für die Fördermittelpolitik vorsieht, riskiert man die Ausweitung sozialer Verwerfungen in den ärmsten Ländern.

Wir haben als LINKE. frühzeitig ein eigenes Standpunktpapier zur Fördermittel- und
Kohäsionspolitik entwickelt. Die Knackpunkte sind:

1. Wir verlangen die Beendigung der Sparpolitik und eine Neuausrichtung der europäischen Politik auf sozialen Fortschritt, nachhaltige Entwicklung, ökologisch, ökonomisch und partizipativ.

2. Wir wollen Benachteiligungen und Disparitäten in den Regionen abbauen – die
Mittel müssen für nachhaltige Infrastruktur und aktive Armutsbekämpfung eingesetzt werden. Alle Regionen sollen auch künftig partizipieren, aber der Schwerpunkt der Förderung muss bei den armen und ärmsten Regionen liegen. Wir haben immer die Position der Mehrheit des Europäischen Parlamentes verteidigt, dass die Mittel im Mehrjährigen Finanzrahmen aufgestockt werden müssen, wenn der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in der EU gestärkt werden soll. Dafür braucht die EU auch eigene Einnahmequellen, die sich nicht wie bisher am Bruttonationaleinkommen der Mitgliedstaaten orientieren, sondern ein eigenes, reformiertes Einkommensverfahren für die EU darstellen. Gekürzt werden müssen die Ausgaben für militärische Vorhaben und die boomende Sicherheitsindustrie.

3. Die EU braucht eine umfassende Armutsbekämpfungsstrategie, die sich finanziell viel stärker in der Fördermittel- und Kohäsionspolitik widerspiegelt. 120 Mio. Menschen sind in der EU direkt von Armut betroffen oder bedroht. Die Bindung von 20 % der Mittel des Europäischen Sozialfonds zur Armutsbekämpfung ist viel zu gering. Zum Abbau von Disparitäten gehört auch, dass nicht nur das Bruttoinlandsprodukt als Voraussetzung für die Bestimmung der Förderhöhe gilt, sondern auch andere Faktoren, wie die demografische Situation und die Höhe der Arbeitslosigkeit in einer Region. Entscheidend ist, wie die Menschen in einer Region leben. Auch in der Bundesrepublik gibt es sehr arme Regionen, wie z.B. in Ostdeutschland, im Ruhrgebiet, in Nordbayern oder in der Region Lüneburg. Der Abbau von Armut, aber auch von Diskriminierung, von Ausgrenzung und Ungleichstellung kann nur dort erfolgreich sein, wo die Akteure, die Betroffenen und örtlichen Verwaltungen, Sozialpartner usw. direkt einbezogen sind. Unsere Vorstellung von künftiger Kohäsionspolitik ist mehr Freiheit in der Entscheidung vor Ort, der Einsatz regionaler Budgets, und mehr regionale Verantwortung.

4. Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, dass Regionalförderung nicht an
makroökonomische Bedingungen gebunden werden darf. Dass die Regionalförderung abhängig gemacht werden soll von bestimmten Reformen und vor allem vom Einhalten der europäischen Verschuldungskriterien durch die Mitgliedsstaaten, bricht mit der bisherigen Logik der europäischen Fördermittelpolitik. Die Regional förderung wird damit in Geiselhaft genommen. Krisenländer, die die regionale Förderung am nötigsten haben, können damit in der EU-Mittelvergabe beschnitten werden. Regionen werden faktisch bestraft. Das ganze Paket von stringenten Vorbedingungen (ex ante Konditionalitäten) und zusätzlichen makroökonomischen Bedingungen (makroökonomische Konditionalitäten) dient dazu, Kosten zu sparen und Druck auf die Innenpolitik der Staaten auszuüben. Eine solche Politik lehnen wir ab, denn Fördermittelpolitik darf kein Mittel der Erpressung sein.

5. Die Struktur- und Regionalförderung muss grundlegend entbürokratisiert werden.
Sicherlich bedarf es wirksamer Mechanismen, um Missbrauch vorzubeugen und Fehler zu reduzieren, aber ob dem mit einer bürokratischen Aufrüstung beigekommen werden kann, halten wir für fragwürdig. Auch die neue Förderperiode ist mit weiteren Hürden versehen, die letztlich immer politisch wirken, wie die leistungsgebundene Reserve, die den Haushalt in den Regionen und Mitgliedsstaaten verunsichern und als Druckmittel wirksam werden würde. Die neue thematischen Konzentration, neue zusätzliche Rechnungslegungen und Verwaltungsansprüche, die kleine Träger kaum bewältigen können, sind letztlich Ausschlussmethoden. Wir haben uns in allen Verhandlungen gegen solche Verfahren und Praktiken ausgesprochen. Weniger Bürokratie bedeutet letztlich schneller, einfacher und nachvollziehbar EU-Mittel nutzen zu können. Das bedeutet auch, dass zum Beispiel marginalisierte Gemeinschaften, kleinere Projekte daran besser teilhaben können. Zugleich fordern wir mehr Flexibilität zwischen den Fonds. Fonds müssen kompatibel sein, die Verwaltungsvorgänge transparent und verständlich und die Wege bis zur Bewilligung zeitlich verträglich. Alle nicht mit der Fördermittelpolitik direkt zusammenhängenden Restriktionen sind abzuschaffen.

6. Kohäsionspolitik muss dem Antidiskriminierungsgrundsatz verpflichtet sein und
sich in allen Fonds als Bedingung widerspiegeln. Es geht um Gender Budgeting in
allen Fonds, um erleichterte Fördermittelbewilligung für besonders benachteiligte Gemeinschaften, wie Roma oder Migranten. Soziale Inklusion muss Querschnittsaufgabe sein. Das heißt auch, dass Leben mit Behinderung oder Beeinträchtigungen überall berücksichtigt wird.

7. Kohäsionspolitik muss nachhaltige Politik gegenüber unserer Umwelt in Wirtschaft und Gesellschaft sein. Deshalb dürfen diese Mittel nicht für solche Vorhaben zur Verfügung stehen, die diesem Grundsatz nicht verpflichtet sind. Die Agrarförderung muss zwingend ökologischen Erfordernissen standhalten können, die Energiepolitik erneuerbare Energien fördern. Nicht auch, sondern grundsätzlich.


Darüber hinaus müssen wir uns im bundesdeutschen Kontext Gedanken machen, worauf wir als Linke bei der künftigen EU-Förderung Wert legen. Es bedarf einer ehrlichen Evaluation und Prüfung dessen, wozu wir künftig EU-Mittel nutzen wollen und können. Der Beitritt sehr armer Mitgliedsstaaten hat den Fokus auf diese Länder hinsichtlich der Förderung verstärkt. Wir unterstützen diesen Weg, auch wenn das für uns bedeutet, künftig weniger Mittel zur Verfügung zu haben. Hinzu kommt das Auslaufen des Solidarpaktes II für die ostdeutschen Länder.
Wir müssen unsere regionalen Potentiale stärken, das heißt auch, die dezentralen
Strukturen für die Energiewende und Wertschöpfung, für soziale und Bildungsprojekte weiterentwickeln, öffentliche Beschäftigung und regionale Wirtschaftskreisläufe schaffen, die großen Chancen grenzüberschreitender Kooperation ausloten und nutzen.


Ich freue mich, Ihnen diese Broschüre vorlegen zu dürfen, damit Sie sich als interessierter Leser und interessierte Leserin diesem so wichtigen Thema nähern können. Die Debatte um die europäischen Fördermittel wird angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise noch weiter an Fahrt aufnehmen. Umso mehr wünsche ich Ihnen eine aufschlussreiche und anregende Lektüre!


Ihre Cornelia Ernst
Mitglied des Europäischen Parlaments
Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Regionale Entwicklung

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