»Solidarität der Bevölkerung ist beeindruckend«

INTERVIEW mit Selahattin Yildirim, erschienen in der JUNGEN WELT

27.01.2010

Der Hungerstreik türkischer Tabakarbeiter gegen Privatisierungsfolgen geht in die zweite Runde. Dem Protestcamp in Ankara droht die Räumung. Ein Gespräch mit Selahattin Yildirim. Selahattin Yildirim ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) in Dortmund und einer der Organisatoren der bundesweiten Solidaritätstage für die Tekel-Arbeiter vom 29. bis zum 31. Januar.

Beschäftigte des Tabak- und Spirituosenkonzerns Tekel, die seit über einem Monat in Ankara gegen die Entlassung von 12000 Beschäftigten aufgrund von Privatisierungsmaßnahmen demonstrieren, haben einen Hungerstreik durchgeführt. Sie sind am Montag abend mit dem Europaabgeordneten Jürgen Klute (Linkspartei) aus Ankara zurückgekehrt. Mit welchen Eindrücken?

Wir haben sowohl mit dem türkischen Arbeitsminister als auch mit den Streikenden gesprochen. Die Lage ist einerseits ernst und dramatisch – Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat eindeutig unsere Kollegen bedroht, auf der anderen Seite ist die Solidarität breiter Bevölkerungsschichten beeindruckend. Im Protestcamp in Ankara sind mittlerweile 5000 Menschen. In den nächsten Tagen könnten es 9000 werden, die aus allen Landesteilen kommen. Am Hungerstreik haben sich vorige Woche rund 100 Menschen beteiligt. Das Ultimatum ist am Dienstag abgelaufen, jetzt wird der Hungerstreik in der zweiten Runde fortgesetzt.

Welche Polizeimaßnahmen hat es bisher gegeben, und welche sind angedroht worden?

Am Anfang hat die Polizei mit massiver Gewalt reagiert. Nachdem sich die Arbeiter nicht einschüchtern ließen, war damit erst einmal Schluß. Es gab sogar Entschuldigungen seitens der Polizei. Am Sonntag hat sich Erdogan aber dann für die Räumung der Zeltstadt ausgesprochen.

Zum Vorsitzenden der Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tek Gida-Is, Mustafa Türkel, äußerte sich Erdogan wörtlich: »Wer bist du, Türkel? – Erkenne deine Grenzen!« Der Ministerpräsident empörte sich auch, es sei nicht normal, im Zentrum der Hauptstadt mit Tausenden Arbeitern zu zelten.

Welche Rolle spielt zur Zeit der traditionell eher staatsnahe Gewerkschaftsdachverband Türk Is?

Türk Is ist mittlerweile gezwungen, sich solidarisch zu zeigen. Bis jetzt hat der Verband nur auf der Großdemonstration vom 15. Januar, auf der er stark vertreten war, seine Solidarität mit den Streikenden erklärt. Die eigentliche Unterstützung erwarten die Tekel-Beschäftigten aber in den Betrieben. Über ein gemeinsames Vorgehen wollen sich die geschäftsführenden Vorstände von Türk Is und den linken Gewerkschaftsdachverbänden DISK und KESK am heutigen Mittwoch einigen.

Wie funktioniert der Zusammenhalt von türkisch- und kurdischstämmigen Arbeitern in dieser Auseinandersetzung?

Dieser Arbeitskampf in der Türkei ist ein Zeichen der Gemeinsamkeit aller Nationalitäten, vor allem der türkischen und der kurdischen. In Ankara kann man das sehr gut beobachten, es ist auch emotional beeindruckend. Als Arbeiterinnen und Arbeiter respektieren sie sich, egal aus welchem Landesteil sie kommen.

Nationalismus spielt keine Rolle, sonst gäbe es auch keine Chance, sich zu wehren. In der Türkei erleben wir zur Zeit eine beispiellose Privatisierungswelle. Alles, was sich verkaufen läßt, wird dort verkauft – und bei keiner dieser Privatisierungen spielen Mitbestimmung, soziale Sicherheit oder Beschäftigungssicherung auch nur die geringste Rolle.

Wie verlief ist Ihr Gespräch mit dem Arbeitsminister?

Der wollte leider nur mit dem Europaabgeordneten Jürgen Klute sprechen. Weder ich noch eine Kollegin der Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tek Gida-Is wurden in seine Räume gelassen. Jürgen Klute hat in dem Ge#spräch bemängelt, daß der Regierung jede Dialogbereitschaft fehlt. Bei der Privatisierung wurden die Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation ILO umgangen. Es gab keinerlei Mitspracherecht und keine Angebote zur sozialen Sicherung der Beschäftigten. Die Konsequenz: Im Europäischen Parlament wird demnächst neben dem Verbot der kurdischen Partei DTP auch der Umgang mit Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechten in der Türkei thematisiert.

Interview: Claudia Wangerin

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Hier einige Impressionen aus dem Protestcamp in Ankara: