Kobanî – ein kurdischer Überlebenskampf

08.10.2014
Jürgen Klute für Ruhrbarone.de

Die nordsyrische Stadt Kobanî (arabisch: Ain al-Arab) wird seit drei Wochen vom Islamischen Staat (IS) belagert. Die kurdische YPG (Kurdisch: Yekîneyên Parastina Gel = Volksverteidgungseinheiten) versucht verzweifelt die Stadt zu halten. Angesichts der zahlenmäßigen und technischen Übermacht des IS und des Ausbleibens effektiver Unterstützung von außen steht Kobanî trotz erbitterten Widerstands der YPG offenbar kurz vor dem Fall. Angesichts der nahezu aussichtslosen Lage in Kobanî und ausbleibender Hilfe haben am gestrigen Dienstag Kurden Protestaktionen in etlichen europäischen Städten geführt. So drangen in Brüssel beispielsweise rund 100 kurdische Demonstranten in das Hauptgebäude des Europäischen Parlaments ein und forderten Unterstützung im Kampf gegen den IS (hier geht’s zum englisch-sprachigen Bericht des EUobserver dazu).

Dass die Kurden nun auf die Straße gehen, ist die Folge wochenlanger aber aus ihrer Sicht ohnehin verspäteter und weitgehend ergebnisloser politischer Debatten um die Frage, wie die sich rasant in Syrien und im Irak ausbreitende Terrorherrschaft des IS gestoppt werden kann. Nach den bereits vom IS durchgeführten Massakern und Massenhinrichtungen in den besetzten Gebieten sowie dem Verkauf von Frauen als Sklaven fürchten die Kurden, dass es nach dem Fall von Kobanî zu weiteren Massakern an gefangenen Kämpfern und Zivilisten kommt.

Es geht den Kurden aber nicht nur um eine effektive Abwehr dieser akuten Bedrohung, die stündlich Realität werden kann – und vielleicht schon Realität geworden ist, wenn Sie diesen Artikel lesen.

Kurden im Nahen Osten: Verteilt auf vier Staaten, belastet mit unzähligen Traumata

Brüssel, 07.10.2014: kurdische Demonstranten im Europäischen Parlament

Die Kurden haben sehr viel mehr zu verlieren. Sie stellen mit ca. 25 bis 30 Millionen Menschen die größte ethnische „Minderheit“ im Mittleren Osten. Und sie blicken mit Stolz auf eine Geschichte von ca. 4.000 bis 5.000 Jahren zurück. Ihre traditionellen Siedlungsgebiete erstrecken sich heute auf die Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien. Dies war nicht immer so. Erst mit dem Untergang des Osmanischen Reiches, zu dem der Großteil der kurdischen Siedlungsgebiete gehörte, wurden die Kurden auf die genannten Staaten aufgeteilt. Die Grenzen der Türkei und auch des Iran wurden nach dem Untergang des osmanischen Reiches neugezogen. Syrien und Irak gab es als eigenständige Staaten bis dahin gar nicht. Sie sind nach den Interessen der europäischen Kolonialmächte als künstliche Gebilde nach dem Modell der europäischen Nationalstaaten entstanden.

Nachdem die Kurden im osmanischen Reich einen fast schon als privilegiert zu bezeichnenden Status inne hatten, fanden sie sich in den neuen Staatsgebilden als marginalisierte und sehr bald auch politisch, ökonomisch und kulturell unterdrückte Minderheit wieder.

In den Jahren 1937/38 brachte die Armee des neu gegründeten türkischen Staates nach einem kurdischen Aufstand in der Region Dersim mehr als 10.000 Kurden ums Leben. Am 16. März 1988 gab es einen Giftgasangriff auf die von Kurden bewohnte irakische Stadt Halabdscha. Bei diesem von der irakischen Armee durchgeführten Angriff kamen zwischen 3.000 und 5.000 Kurden ums Leben.

Noch bis vor wenigen Jahren war es in der Türkei bei Strafe verboten in der Öffentlichkeit kurdisch zu sprechen. Wegen Verstoß gegen dieses Verbot wurde die kurdische Politikerin Leyla Zana als gewählte Abgeordnete des türkischen Parlaments 1994 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Zana hatte während ihrer Vereidigung drei Jahre zuvor ein Haarband in den kurdischen Farben getragen und einen Satz in ihrer Muttersprache gesprochen.

Diese Geschehnisse aus einer langen und blutigen Konfliktgeschichte mit den Machthabern der nach dem Ende des 1. Weltkriegs und dem Zerfall des osmanischen Reiches neu entstandenen Staaten sind die im kollektiven Gedächtnis der Kurden am stärksten eingebranten Tragödien.

Aus dieser leidvollen Geschichte erklärt sich auch der politische Wille der Kurden nach einem eigenen Staat. Die PKK hat vor über 30 Jahren angefangen, für eine Abspaltung der kurdischen Gebiete von der Türkei zu kämpfen. Allerdings hat die Bewegung um PKK-Gründer Abdullah Öcalan die Forderung nach einer Abspaltung schon vor etlichen Jahren aufgegeben, um heute für den föderalen Umbau der Türkei und weitgehende Autonomierechte innerhalb des türkischen Staates zu kämpfen.

Die im Nordirak lebenden Kurden haben von dem weitgehenden Zerfall des Iraks infolge des Irak-Kriegs (2003 bis 2011) profitiert. Sie haben im Nordirak ein eigenes Verwaltungsgebiet aufgebaut, das auch als Süd-Kurdistan bezeichnet wird. Dieses kurdische Verwaltungsgebiet hat zwar keine völkerrechtliche Anerkennung erhalten, aber de facto funktioniert es als eigenständiger Staat. Die kurdische Selbstverwaltung hat den Nordirak politisch und wirtschaftlich stabilisiert – nicht zuletzt aufgrund der dortigen Ölvorkommen und guter wirtschaftlicher Beziehungen zur Türkei. Die konservative kurdische Regierung im Nordirak funktioniert weitgehend nach demokratischen Prinzipien und ohne Unterdrückung von Minderheiten.

Autonome Strukturen und fortschrittliche Ideen

In Syrien leben die Kurden auf drei Siedlungsgebiete im Norden verteilt. Im mehr als seit zwei Jahren andauernden Bürgerkrieg in Syrien haben sich die Kurden zunächst neutral verhalten. Ihr politisches Ziel war und ist es, auch hier analog zum Nordirak eine selbstverwaltete Region aufzubauen, die sie „Rojava“ nennen. Bis zur gegenwärtigen Offensive des IS haben sie sich auch erfolgreich gegen Angriffe und Belagerungen islamistischer Gruppierungen zur Wehr setzen können. Es wurden auf verschiedenen Ebenen Wahlen organisiert und Verwaltungsstrukturen aufgebaut, die weitgehend nach demokratischen Prinzipien funktionieren. Deutlicher als im Nordirak sind Frauenrechte hier ein wichtiges Thema. Zudem hat die kurdische Selbstverwaltung vielen Flüchtlingen aus anderen Teilen Syriens und zuletzt sogar aus dem irakischen Sindschar-Gebirge Schutz geboten.

Allerdings gab es auch Spannungen zwischen Kurden in Rojava und im Nordirak. Die kurdische Regierung im Nordirak ist deutlich konservativer ausgerichtet als die Defacto-Regierung in Rojava, die eng mit der PKK in der Türkei kooperiert.

Es dürfte ein längerfristiges Ziel kurdischer Politiker sein, zumindest Rojava und Südkurdistan zu einem kurdischen Staat zu verbinden. In eine andere Richtung zielen dagegen übrigens die Vorschläge des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, der als langfristiges Ziel einen demokratischen Vielvölker-Staatenverbund für den ganzen Mittleren Osten vorsieht – der allerdings einem eigenen demokratischen Modell folgt, das sich einerseits aus sozialistischen Ideen speist und andererseits auf die politische Realität des mittleren Ostens zugeschnitten sein soll. Diese Öcalan-Roadmap dürfte aktuell das einzige halbwegs ausformulierte und demokratischen und menschenrechtlichen Standards entsprechende Konzept für einen politischen Neuaufbau des Mittleren Osten nach seinem Zerfall sein.

Brüssel, 08.10.2014: Kurdische Protestaktion auf dem Schuman-Platz in Brüssel. Im Hintergrund das Gebäude des Europäischen Auswärtigen Dienstes

Blickt man auf diese Hintergründe, dann wird deutlich, dass der Fall Kobnîs nicht allein eine humanitäre Katastrophe darstellt, sondern ebenso sehr eine politische. Ein Sieg des IS würde diese im Kern demokratischen Entwicklungsansätze der Kurden hinwegfegen und durch ein faschistoides Terrorsystem ersetzen. So oder so: Die Landkarte des Mittleren Ostens wird derzeit offenbar neu gezeichnet – Die Frage ist eben nur, wie!

Zu Recht fragt man sich, weshalb die Kurden trotz allem nach wie vor isoliert sind. Zum einen liegt es daran, dass die PKK noch immer auf der so genannten EU-Terrorliste verzeichnet ist. Insbesondere die Bundesregierung sperrt sich deshalb gegen eine Zusammenarbeit mit der PKK. Das hat natürlich auch damit mit zu tun, dass Deutschland seit dem 18. Jahrhundert zunächst zum osmanischen Reich und dann zur türkischen Regierung ein enges politisches Verhältnis pflegt. Und nicht zuletzt mit der Konzeptionslosigkeit der deutschen Außenpolitik, die zur Entwicklung langfristiger Perspektiven offensichtlich nicht mehr fähig ist.

Die türkische Regierung führt zwar seit ein paar Jahren Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan über einen Friedensprozess. Historisch bedeutsame Schritte in Richtung einer friedlichen, politischen Lösung des Konfliktes zwischen kurdischer Autonomiebewegung und dem türkischen Staat sind bereits genommen. Neben ideologischen Schnittmengen des sunnitischen, „soft-islamistischen“ Erdogan-Regimes mit IS und Al-Nusra, hat die Türkei auch kein Interesse an einer weiteren Stärkung der Kurden in der Region und einem möglichen Wiederaufleben alter Forderungen nach einer Abspaltung des kurdischen Südostens von der Türkei.

Kobanî: Hoffen auf Luftschläge, Furcht vor türkischer Pufferzone

Jedenfalls hat das NATO-Mitglied Türkei auf die Kämpfe an der eigenen Grenze bislang nicht aktiv eingegriffen – und sich damit bereits den offenen Ärger der US-Regierung eingehandelt. Die neue türkische Regierung hofft offensichtlich auf den Fall Kobanîs und eine nachhaltige Schwächung der miltärischen und politischen Strukturen Rojavas durch den IS. Die Kurden stehen einem möglichen Einsatz türkischer Truppen in Syrien sehr skeptisch gegenüber und lehnen eine türkisch kontrollierte Pufferzone in Nordsyrien, die der dortigen kurdischen Selbstverwaltung ein Ende setzen würde, strikt ab.

Die USA tun sich mit einem stärkeren Eingriff schwer, weil sie die Beteiligung an einem erneuten Krieg im Irak bzw. in Syrien für politisch kaum vermittelbar halten. Insbesondere in Syrien ist eine Intervention völkerrechtlich sehr problematisch, da es weder eine Zustimmung der noch existierenden syrischen Regierung gibt noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Immerhin haben die USA eine Kooperation mit einigen arabischen Staaten bei den Luftangriffen gegen den IS erreichen können. Das ist politisch sicher ein kluger Schritt gewesen. Aber diese Allianz zusammenzuhalten ist eben aufgrund der sehr unterschiedlichen Interessenlagen schwierig. Dies dürfte ein Grund für die Zurückhaltung bei den Luftangriffen zum Schutz der Kurden in Kobanî sein. Die aktuellen Aussagen der Obama-Administration deuten auch darauf hin, dass die USA eine Offensive aus der Luft unmittelbar an der Grenze zum Bündnispartner Türkei für weniger dringlich hielten.

Damit sind die politischen Zwänge, in denen sich die Hauptakteure bewegen müssen, zumindest skizziert. Diese Zwänge kann man nicht einfach ignorieren, Politik hat mit ihnen umzugehen. Gleichwohl müssen politische Akteure über den status quo hinausdenken, also alternative Handlungsoptionen entwickeln. Dazu sollten folgende Schritte gehören: Ohne eine kurzfristige und effektive militärische Intervention lässt sich der IS nicht stoppen. Sowohl aus humanitären als auch aus politisch-strategischen Gründen ist eine Zerschlagung des IS nötig.

Die eigentliche politische Herausforderung fängt danach allerdings erst an! Ein zentraler Punkt ist dabei, anzuerkennen, was von kurdischer Seite in dieser Situation geleistet worden ist – militärisch, humanitär und politisch. Deshalb ist eine schnelle Streichung der PKK von der Terrorliste unabdingbar. Eine Streichung kann an Bedingungen gebunden werden derart, dass die PKK den in der Türkei begonnenen Friedensprozess fortsetzt und ab einem bestimmten Punkt ihre Waffen niederlegt. Sie muss als einer der beiden Hauptkonfliktpartner in den Friedensprozess eingebunden sein. Die türkische Regierung hat das längst erkannt, auch wenn sie sich immer wieder schwer tut damit. Aber gerade deshalb ist die Streichung wichtig und stetiger Druck auf die türkische Regierung, den Friedensprozess voranzubringen.

Die türkische Regierung hat bisher rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, ohne entsprechende finanzielle Unterstützung von außen. Es wäre politisch sinnvoll, die Türkei bei der Bewältigung dieser Aufgabe seitens der EU finanziell und logistisch zu unterstützen.

Die Zukunft Syriens: Was kommt nach den Schlagzeilen?

In Syrien und im Irak gibt es Abertausende von Flüchtlingen auch innerhalb der Landesgrenzen und durch den Bürgerkrieg ist viel zerstört worden. Dem muss zunächst mit humanitärer Hilfe begegnet werden und dann mit dem Aufbau der Wirtschaft, um den Menschen Perspektiven durch Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe zu geben. Andernfalls erzeugt man erneut einen Nährboden für Terror und Mord. Und schließlich müssen funktionierende politische Systeme aufgebaut werden, die auf die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten vor Ort eingehen unter Einschluss der Akteure des so genannten arabischen Frühlings.

Ob das im Rahmen der alten Staatsgrenzen geschehen kann, ist zweifelhaft. Wenn dem so ist, dann muss unter Federführung der UNO eine Lösung gefunden werden, die mit den politischen Akteuren vor Ort entwickelt wird und von den Menschen vor Ort getragen wird. Das ist keine Aufgabe, die kurzfristig zu lösen ist. Aber wenn man dem IS Einhalt gebieten will, dann geht das nicht primär mit Waffen – ein Waffengang kann nur ein Noteingriff sein. Anschließend müssen die tieferliegenden Ursachen für die gegenwärtige Situation im Mittleren Osten bearbeitet werden. Nur wenn das gelingt, kann der IS-Terror erfolgreich und nahhaltig bekämpft werden.

Fällt Kobanî hingegen, wird der IS dies als Schwäche des Westens auslegen und sich zu weiteren Aktionen ermutigt sehen. Aber auch für die Türkei hätte ein Fall Kobanîs weitreichende Konsequenzen. Abdullah Öcalan hat Ende letzter Woche erklärt, dass ein Fall Kobanîs das Ende des türkisch-kurdischen Friedensprozesses bedeuten würde. Gestern hat er dies noch einmal unterstrichen. Die vor ein paar Tagen begonnen Proteste in der Türkei gegen die bisherige Haltung der Regierung haben sich gestern zugespitzt. Mittlerweile hat es über zehn Tote bei diesen Protestaktionen in der Türkei gegeben.

Die kurdischen Proteste werden offensichtlich auch von türkischen Linken unterstützt. Die gestrigen kurdischen Proteste in vielen europäischen Städten sind durchaus nicht nur als Hilferuf zu deuten, sondern auch als eine letzte verzweifelte Drohung an den Westen, dass ein weiteres Wegsehen unabsehbare Konsequenzen haben wird.