Ungarn: Mehrheit des EU-Parlaments nimmt Orban in die Pflicht

TAVARES-BERICHT zum DOWNLOAD und HIGHLIGHTS der PLENARDEBATTE

02.07.2013
Bahnhof in Budapest. "Wenn alles in Ungarn blühendes Leben ist, dann frage ich Sie: Warum verlassen so viele junge, gut ausgebildete Ungarn das Land?" - Hannes Swoboda.

Eine Mehrheit des EU-Parlaments sieht die Unabhängigkeit der Justiz, den Schutz von Minderheiten und die Freiheit der Medien in Ungarn in Gefahr und fordert mehr Druck auf Orban. Die große Mehrheit der europäischen Konservativen, allen voran die Abgeordneten der CDU/CSU, nehmen ihren politischen Gefährten dagegen weiter in Schutz. Lesen Sie hier den Tavares-Bericht zur Lage der Grundrechte in Ungarn (am Ende der Seite zum Download) sowie die Highlights der Aussprache im Europäischen Parlament!

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Hannes Swoboda, im Namen der S&D-Fraktion:

Herr Präsident! Lieber Kollege Weber, Sie sind schlecht informiert. Wir haben hier über Rumänien diskutiert, wir haben zugestimmt, dass man über Bulgarien diskutiert. Es war eine Frage des Zeitpunkts. Wenn Sie nur einmal das, was ich zu den Sozialisten in Bulgarien gesagt habe, wenn Sie das nur einmal über Ungarn gesagt hätten, jene kritischen Bemerkungen, Sie oder Kollege Daul, dann würde ich das zurücknehmen. Aber dazu können Sie sich nicht bekennen.

Herr Ministerpräsident, Sie sind gekommen, das finde ich gut. Das ist ein Zeichen, dass Sie zumindest im Grundsatz zum Dialog bereit sind. Dennoch hat mich Ihre Rede enttäuscht, weil Sie die üblichen Mythen geprägt haben: Die Linken stimmen gegen Ungarn. Wir stimmen nicht gegen Ungarn. Wer für den Bericht Tavares stimmt, stimmt für die Freiheit der Bürger in Ungarn und für die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Das ist zu sagen.

Sie haben ja nicht nur den Bericht Tavares zurückgewiesen, sondern de facto auch die Kommissionsarbeit. Ich möchte Sie fragen, warum Sie nicht mehr unternehmen dagegen, dass Frau Reding in Ungarn zur Unperson erklärt worden ist, weil sie für das Recht und für die Freiheit kämpft. Wenn Sie dafür kämpfen, dann müssten Sie eigentlich Frau Reding in Ungarn verteidigen.

Sie haben gesagt, Sie müssten Ungarn verteidigen und schützen. Ich weiß nicht gegen wen, denn sie sind Mitglied der Europäischen Union und ein Teil dieser Union, die für Rechtsstaatlichkeit sorgen muss. Wenn alles in Ungarn blühendes Leben ist, dann frage ich Sie: Warum verlassen so viele junge, gut ausgebildete Ungarn das Land? Warum gibt es viele Investoren, die heute nicht nach Ungarn kommen, wenn alles so blühend ist? Warum stellen Sie die Demokratie und auch die Rolle der Parteien, vor allem auch der Oppositionsparteien, in Frage, wenn Sie so sehr für Demokratie und Freiheit sind? Warum haben Sie die Medienvielfalt in Frage gestellt und mussten das Gesetz ändern, wenn Sie so sehr für die Freiheit sind? Und warum kommen immer mehr Vertreter auch der jüdischen Gemeinschaft zu uns, wenn es keinen Antisemitismus in Ungarn gibt? Warum sind Sie nicht klar dagegen? Nicht, dass ich Sie beschuldige, dass Sie ihn fördern, aber wer mehr und mehr Horthy-Statuen aufstellt, darf sich nicht wundern, wenn gleichzeitig der Antisemitismus in seinem Land zunimmt, was ich sehr bedauere.

Ja, Sie haben das Recht, dafür einzutreten, dass Fidesz immer in der Regierung bleibt. Aber dafür gibt es Grenzen in einer Demokratie. Denn Demokratie heißt auch Abwechslung von politischen Parteien in der Führung der Regierung. Das ist, was wir unter Demokratie verstehen. Und ich glaube, das sollten Sie auch akzeptieren.

Aus all diesen Gründen – Sie sind nämlich nicht auf die einzelnen Punkte von Herrn Tavares eingegangen, Sie haben den Bericht nur generell abgelehnt, Sie haben gesagt, wer für Tavares ist, ist gegen Ungarn – nein! Nochmals: Wer für Tavares ist, hat sehr wohl die Interessen der Bürgerinnen und Bürger Ungarns im Kopf. Denn eines verwundert mich bis heute – und ich habe Sie schon das letzte Mal danach gefragt und keine Antwort bekommen: Sie haben Ihre politische Karriere als Kämpfer für die Freiheit begonnen, das muss ich respektieren. Das war wirklich eine große Tat, die Sie als junger Mann gesetzt haben. Und ich verstehe bis heute nicht, warum Sie heute die Freiheit in Ungarn einschränken wollen, anstatt sie zu verteidigen. Verteidigen Sie mit uns gemeinsam die Rechtsstaatlichkeit, mit uns gemeinsam die europäischen Werte und Rechte! Denn darum geht es. Und solange die Kommission das vertritt, werden wir die Kommission voll unterstützen.

Kein einziges Land in der Europäischen Union, Herr Viktor Orbán, musste so viele Gesetze, die mit Demokratie und Freiheit zu tun hatten, ändern. Viele Länder müssen etwas ändern, aber dass ein Land permanent seine Gesetze ändern muss, weil sie gegen europäische Werte und Rechte verstoßen, das ist leider Ihrer Regierung überlassen, und das tut uns leid!

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Manfred Weber (CSU), im Namen der PPE-Fraktion:

Sehr geehrte Präsidenten, Herr Premierminister, liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Mittelpunkt der europäischen Idee stehen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dieser Wertekanon muss geschützt werden, und deswegen ist es richtig und gut, dass wir heute diskutieren. Ich bedanke mich beim Ministerpräsidenten von Ungarn, bei Viktor Orbán, dass er dieses Vorgehen und damit auch das Europäische Parlament als Ort der Debatte ernst nimmt und bei der Diskussion anwesend ist. Herzlich willkommen!

Rechtsstaatlichkeit heißt für die Europäische Volkspartei zunächst einmal faire Verfahren. Die Kommission hat geprüft und hatte dabei immer die Rückendeckung der Europäischen Volkspartei, alle Fakten auf den Tisch zu legen. Die ungarische Seite hat reagiert, hat abgearbeitet, wie wir es gerade von Kommissionspräsident Barroso bestätigt bekommen haben. Zudem hat der Europarat, der Kronzeuge der Linken hier im Hause, entschieden, dass ein Monitoring gegenüber Ungarn nicht notwendig ist, das heißt, dass keine weiteren Überwachungen aus Sicht des Europarates notwendig sind.

Worüber reden wir also heute? Von der Faktenanalyse bleibt wenig übrig. Die Kommission sagt, Ungarn hat geliefert. Der Europarat lehnt ein Monitoringverfahren ab. Es geht also heute nicht um Faktenbewertung, es geht um Politik. Wir sind ja auch ein Parlament, da ist es richtig, dass wir über Politik reden. Wenn wir jetzt auf den Bericht blicken, dann erkennen wir dort viele dieser politischen Punkte. Z. B. wird dort Ungarn das Recht abgesprochen, die Familie als Beziehung zwischen Mann und Frau zu definieren. Liebe Freunde, meine sehr verehrten Damen und Herren, im Lissabon-Vertrag ist eindeutig geregelt, dass Familienfragen subsidiär zu regeln sind, dass Ungarn das Recht hat, das so zu entscheiden. Wenn die Ungarn das anders sehen, dann sollen sie bitte beim nächsten Mal ein anderes Parlament wählen.

Als zweites Beispiel haben die Ungarn entschieden, in ihrer Verfassung die christlichen Wurzeln zu beschreiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso wie Großbritannien das Recht hat, die Queen zum Oberhaupt ihrer Kirche zu erklären, wobei kein Mensch etwas dagegen hat, haben die Ungarn das Recht, die christlichen Wurzeln ihrer Geschichte in ihrer Verfassung zu verankern. Dieses Recht steht ihnen zu, und das hat eine linke Mehrheit ihnen auch nicht abzunehmen.

Als Drittes: der Hinweis, dass wir in Europa ein Wahlüberwachungsverfahren für 2014 durchführen sollen – es ist schlicht indiskutabel, das einem europäischen Land aufzuerlegen.

Wenn wir also Politik machen, dann frage ich mich, warum haben wir nicht über Fico diskutiert, als der gegen die ungarische Minderheit in der Slowakei polemisiert hat? Warum haben wir letztes Jahr hier nicht über Rumänien diskutiert – wir haben das hier beantragt –: klarer Verfassungsbruch durch rumänische Sozialisten in ihrer eigenen Regierung. Und warum haben Sie gestern gegen Bulgarien gestimmt? Ich muss es hier ansprechen, Herr Swoboda, denn Sie werden sicherlich nachher die Diskussion verlassen, wenn wir über Bulgarien reden werden. Ich stelle mir schon die Frage: Was ist denn die Kröte, die die Sozialisten in Bulgarien schlucken mussten, als sie mit der Ataka gemeinsame Sache gemacht haben? Was wurde denn den Rechtsradikalen dort versprochen? Das sind doch die eigentlichen Fragen, wenn es um Rechtsbrüche geht. Entschuldigung, ich sehe Herrn Verhofstadt auch hier sitzen, der war so klein bei der Abstimmung, weil er selbst ein schlechtes Gewissen dabei hatte, als er die Diskussion in den LIBE-Ausschuss wegdrücken wollte.

Das sind doch die eigentlichen Debatten, die wir führen müssen, wenn es um Rechtsstaatlichkeit in dieser Europäischen Union geht. Wir haben Vertrauen in Ungarn. Ungarn ist ein Land der Freiheit. Ungarn hat sich freigekämpft vom Kommunismus, und wir haben Vertrauen in das ungarische Volk.

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Gabriele Zimmer, im Namen der GUE/NGL-Fraktion:

Herr Präsident! Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was eigentlich der Sinn der heutigen Debatte ist. Warum haben Sie, Herr Orbán, so großen Wert darauf gelegt – dazu haben Sie auch durchaus das Recht und das ist auch gut so –, aber was war Ihre Intention, hierher zu kommen, mit uns zu diskutieren?

Ich habe mir Ihren ersten Beitrag angehört, ich habe mir jetzt Ihre Erwiderungen angehört. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie hierher gekommen sind, um mit uns darüber zu reden, was in dem Bericht geschrieben steht und was aus Ihrer Sicht korrigiert werden müsste, oder wo Sie auch meinen, sagen zu müssen, ja, darüber werden wir auch noch einmal nachdenken und wir halten das für einen guten Ansatz für eine gemeinsame Diskussion. Nein, Sie haben uns gleich erklärt: Wer dem Bericht von Herrn Tavares zustimmt, ist gegen Ungarn, und nur die Freunde Ungarns, die werden ihn ablehnen. Sie haben eine Konfrontation aufgemacht, die jede politische Diskussion verhindert. Sie wollen sie nicht. Also warum sind Sie eigentlich hierher gekommen?

Ist es mehr oder weniger, um nach außen, um in Ungarn selbst zu zeigen, ich gehe hierher und ich verteidige euch? Ist es das, was Sie wollen? Was hat das mit politischer Kultur zu tun, mit Debatte? Sie erklären uns: In Ungarn entscheiden wir darüber, wie wir leben wollen. Ja, natürlich. Aber entscheiden Sie für alle Menschen in Ungarn? Haben Sie vor dem Hintergrund eines Wahlergebnisses das Recht, über jeden einzelnen zu entscheiden und jedem und jeder einzelnen zu sagen, du hast so und so zu leben?

Wie ist denn das mit den Lehren aus dem gescheiterten Staatssozialismus? Gehört da nicht dazu, dass die Frage der kollektiven Menschenrechte und der individuellen Rechte zusammengeführt werden müssen? Sie reden von kollektiven Rechten: Das Wahlergebnis hat uns in die Lage versetzt, dass wir allen anderen sagen, was sie zu tun haben. Sie nehmen gar nicht mehr wahr, ob es jetzt die Frage des Zusammenlebens betrifft, ob es andere politische Auffassungen sind, ob das einfach die Art und Weise ist, auch zu produzieren oder etwas zu tun in Ihrem Lande, was nicht Ihren Vorstellungen entspricht, dass das ein Recht hat, dass das berechtigt ist und dass das auch von Ihnen geschützt werden muss.

Es ist vorhin gesagt worden, Demokratie setzt voraus, dass ich mit Minderheiten umgehe. Bitte, wenn schon Vergleiche gemacht werden mit früheren Zeiten, dann sage ich, die aus einem ehemals staatssozialistischen Land kommt, Ihnen: Auch 99%ige Wahlergebnisse haben nicht verhindert, dass ein solches System einstürzt, wenn nämlich die Menschen merken, dass sie selbst einzeln nicht mehr respektiert werden! Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!

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ZUM DOWNLOAD: Bericht über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn / BERICHTERSTATTER: Rui Tavares

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