Zehn Minuten, um das 19. Jahrhundert zu überwinden

11.12.2012
Robert Menasse

Sehr geehrte Damen und Herren!


Ich habe, wie mir nachdrücklich gesagt wurde, zehn Minuten Redezeit. Das ist sehr kurz, gemessen daran, was alles gesagt werden muss – aber zehn Minuten sind andererseits auch sehr lange, wenn man bedenkt, dass es fünf vor zwölf ist.

Denn das Europäische Projekt befindet sich, sachlich betrachtet, an der Kippe. Allerdings besteht dennoch kein Anlass für Alarmismus: Die Uhr scheint ja stehen geblieben zu sein, denn ich lese seit Monaten in den Zeitungen, dass es fünf vor zwölf ist. Und wir wissen vom großen Historiker Theodor Mommsen, dass nach dem Untergang Roms Jahrzehnte vergingen, bis die Römer begriffen haben, dass sie untergegangen sind. Es wird also, selbst wenn ich meine Redezeit dramatisch überziehe, und erst recht, wenn Sie und wir alle noch jahrelang reden oder schweigen, auch zehn nach zwölf business as usual geben, ganz einfach weil es über alle Epochenbrüche hinweg immer business gab, das ist es ja, was usual ist, erst recht heute, da man sich darauf verständigt hat, dass es ein „Spiel" ist, und das ist es doch, sonst würden wir nicht diejenigen, die den Reichtum der Welt abschöpfen, global player nennen. 
Aber lassen wir die Schnörkel! Nur noch neun Minuten!

Warum ist das Europäische Projekt gefährdet? Ich brauche zwei Minuten, um zunächst einmal in Erinnerung zu rufen, was die Europäische Gemeinschaft und schließlich die Europäische Union sein sollte. 
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte der europäische Nationalismus zu zwei verheerenden Weltkriegen und zum größten Menschheitsverbrechen, zu Auschwitz, geführt. Aus diesen Erfahrungen musste eine Lehre gezogen werden, dies sollte nie wieder geschehen können. Die Frage war, wie es gelingen könne, die verfeindeten Nationen nachhaltig auszusöhnen und den Nationalismus zu überwinden, so dass ein friedliches und freies Zusammenleben auf diesem geschichtsverwüsteten Kontinent möglich wird. Die Gründerväter des Vereinten Europas hatten die Idee, die Ökonomien der Nationalstaaten so zu verflechten, dass ein System wechselseitiger Abhängigkeiten, schließlich eine Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer Interessen entsteht, die nationale Sonderwege, die sich historisch als gemeingefährliche Irrwege erwiesen haben, verunmöglicht. Es begann bekanntlich mit der Kohle und Stahl Union – warum? Kohle und Stahl sind kriegswichtige Güter, zugleich waren sie Anfang der 50er Jahre maßgebliche Produktionsfaktoren für den Wirtschaftsaufschwung. Sie zu vergemeinschaften und einer gemeinsamen Kontrolle zu unterwerfen, sollte den innereuropäischen Frieden sichern und ein gemeinsames Prosperieren gewährleisten. Mit der Gründung einer Hohen Behörde, die gemeinsame Regelungen für die Mitgliedstaaten der Montanunion treffen konnte, war die erste supranationale Organisation geschaffen und die nachnationale Entwicklung eingeleitet.


Es war damals perspektivisch klar, und diese Einsicht bleibt klar, auch wenn sie heute in Vergessenheit zu geraten droht: der Nationalismus, mit dem auf unserem Kontinent die schrecklichsten Erfahrungen gemacht worden war, kann nur an der Wurzel besiegt werden, das heißt letztlich durch die Überwindung des Nationalstaats. Das ist sehr wichtig, das ist es, was wir uns heute in Erinnerung rufen müssen: Das „Friedensprojekt EU" ist im Kern ein Projekt zu Überwindung der Nationalstaaten. Nur „Friedensprojekt" zu sagen, klingt nett – und für viele bereits langweilig. Es ist augenblicklich wieder spannend – und wir verstehen auch sofort wieder die Widersprüche, die wir heute als „Krise" erleben, wenn wir nicht vergessen: von Anfang an war das die Utopie: am Ende soll das Ende der Nationalstaaten stehen!
Noch sieben Minuten.


Die Überwindung des Nationalstaats ist eine zähe Angelegenheit, es zeigte sich, dass sie nur in kleinen Schritten erfolgen kann. Und weitere kleine Schritte wurden beharrlich gesetzt. Ökonomisch durch die immer konsequentere Verflechtung der Volkswirtschaften, den freien Kapitalverkehr und den gemeinsamen Markt, organisatorisch durch den Ausbau der supranationalen europäischen Institutionen. Lange Zeit wurde diese Entwicklung in der öffentlichen Wahrnehmung als vernünftig und faszinierend angesehen, und schließlich als so geschichtsmächtig, dass eine Umkehr unvorstellbar schien. Aber die Stimmung ist gekippt. Die Nationen haben zwar weitgehend Souveränitätsrechte an die supranationalen europäischen Institutionen abgetreten, aber der Nationalismus lebt in den Mitgliedsstaaten neu auf. Der historische Basiskonsens der Europäischen Union, dass die Überwindung des Nationalismus notwendig, dass das Vorantreiben der nachnationalen Entwicklung vernünftig ist, ist selbst den politischen Eliten in Europa heute weitgehend abhanden gekommen. Dadurch ist das Projekt in den Grundfesten gefährdet.


Ich brauche jetzt zwei Minuten, um darauf hinzuweisen, dass der neue Nationalismus nicht bloß von gestrigen Rechtspopulisten getrommelt wird, die bedauerlicherweise immer mehr Zulauf haben - der neue Nationalismus ist vielmehr eine Bedrohung, die von der so genannten Mitte der Gesellschaften der Mitgliedstaaten ausgeht. So lange das nicht erkannt ist, wird man keine Antwort auf die gegenwärtigen Probleme der Europäischen Union finden, im Gegenteil: dann ist der Kollaps vorprogrammiert.


Denn das Problem ist ja nicht, dass die nationalistischen Parteien von den „Wahren Finnen" bis zu den „Freiheitlichen Österreichern" („freiheitlich" hat übrigens mit Freiheit so viel zu tun wie „schönheitlich" mit Schönheit!) aus irgendwelchen Gründen für viele Wähler überzeugender sind als die staatstragenden bürgerlichen beziehungsweise sozialdemokratischen Parteien, die noch die Regierungen der meisten europäischen Staaten bilden. Das Problem ist vielmehr, dass die nationalistischen Parteien und die Regierungsparteien der so genannten „Mitte" eine Überzeugung teilen: nämlich dass die nationale Karte eine Trumpfkarte ist, wenn es um innenpolitische Legitimation geht. Die nationalen Rechten überzeugen nicht, sie holen bloß die Überzeugten ab, und überzeugt wurden diese längst schon von ihren Regierungen. Die Regierungschefs und Minister, die regelmäßig nach Brüssel fliegen und im Europäischen Rat Entscheidungen treffen, streifen bekanntlich während des Heimflugs den Europäer ab, setzen sich die nationale Clownsmaske auf und berichten, wie großartig sie die nationalen Interessen verteidigt, was sie im Ringen mit den „Bürokraten in Brüssel" für das eigene Land durchgesetzt, und was sie gegen die teuren Gelüste anderer Mitgliedstaaten verhindert haben.

Die Botschaft ist: Wir sind zwar Mitglied der Europäischen Union, das muss irgendwann einmal ein blöder Sachzwang gewesen sein, aber wir, die gegenwärtige Regierung, kämpfen darum, dass „uns" in unserer kuscheligen Nation das nicht zum Schaden gereicht! Das passiert in allen Mitgliedstaaten, und man wundert sich, dass es überhaupt noch eine Gemeinschaft gibt bei so vielen national durchgesetzten Sonderregelungen und Ausnahmen, beziehungsweise angesichts der Tatsache, dass es immer wieder unmöglich ist, brennende gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen.. Das Problem der Europapolitik heute ist, dass sie fast nur noch als nationalistische Mimikry auftritt, der gegenüber sich die nationalpopulistischen Parteien nicht in Opposition befinden, sondern bloß ihr Lautsprecher sind. Ich könnte jetzt sehr lange die Beispiele aufzählen. Sie kennen sie!
Ich habe nur noch vier Minuten.


Ich komme zum Punkt. Hier zeigt sich, dass die Krise des Europäischen Projekts das Produkt einer politischen Schizophrenie ist, die, weil es zunächst gar nicht anders denkbar war, leider auch institutionell verankert wurde: Um die nachnationale Entwicklung zu beginnen und voranzutreiben, mussten ja zunächst einmal die Nationen in die Gemeinschaft eintreten. Das konnten, demokratisch legitimiert, nur die nationalen Regierungen tun. Und sie schufen sich in der Gemeinschaft eine supranationale Institution, in der sich die politischen Repräsentanten der Nationen treffen: den Europäischen Rat. Der Beitritt bedeutete die Preisgabe nationaler Souveränität. Aber im Europäischen Rat sehen es die nationalen Regierungen mittlerweile wieder als ihre Aufgabe an, die nationale Souveränität zu verteidigen. Der Europäische Rat kann also jetzt nur behindern, was er der Idee nach befördern sollte: die Überwindung des Nationalismus. Denn solange es weiterhin die nationalen Staats- und Regierungschefs und die nationalen Fachminister sind, die europapolitische Entscheidungen treffen sollen, die aber ihre Legitimation nur durch nationale Wahlen erhalten, solange bleibt in Europa der Nationalismus eine Lebensversicherung der politischen Eliten schlechthin, und so lange muss die Verteidigung nationaler Interessen in der supranationalen Institution Europäischer Rat zur Aufhebung der Idee führen und zur Dauerblockade des nachnationalen Prozesses.


Ein Beispiel, ganz kurz, nur eine Minute, denn Sie kennen es bis zum Überdruss: die so genannte Finanz- und Eurokrise, ausgelöst durch das Handelsbilanz- und Haushaltsdefizit Griechenlands. Hier zeigt sich, wenn man es sehen will, überdeutlich, dass diese Krise in Wahrheit eine historische Transformationskrise ist: das Europa der Nationen kann die Krise nicht mehr lösen, das nachnationale Europa kann die Krise noch nicht lösen. Umgekehrt: genau aus diesem Widerspruch ist die Krise entstanden und so dramatisch gewachsen: aus dem Widerspruch zwischen der nachnationaler Entwicklung, die bereits zu weitgehender wechselseitiger Abhängigkeit zwischen den Mitgliedstaaten geführt hat, und politischen Entscheidungsträgern, die ihre Legitimation nur durch stete Rücksichtnahme auf nationale Interessen und Befindlichkeiten organisieren können. Betrachtet man das Problem durch die nationale Brille, ist es riesig. Betrachtet man das Problem europäisch – ist es verschwunden. Das griechische Defizit beläuft sich auf zwei Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts. Das soll europäisch nicht bewältigbar sein? Kalifornien wäre froh, nur diese Schulden zu haben. Das Außenhandelsdefizit Griechenlands ist zu rund neunzig Prozent ein Defizit im Handel auf dem europäischen Binnenmarkt. Sehen wir uns den Exportweltmeister Deutschland an: zu rund achtzig Prozent geht dieser so genannte Export in den europäischen Binnenmarkt. Europäisch gesehen haben wir hier also eine relativ ausgeglichene Bilanz. Wie sieht es nun mit der wirklichen Außenhandelsbilanz aus, nämlich der Außenhandelsbilanz Europas? Sehr gut, sie ist positiv. Wo also ist das Problem?


„Die Griechen" zahlen keine Steuern, haben keine Steuermoral? Die Staats- und Regierungschefs derselben Nationen, deren Steuerzahler heute voller Ressentiments über Griechenland schimpfen, haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass es dazu kommen konnte. Niemand hat die EU daran gehindert, die Einführung der gemeinsamen Währung mit einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalpolitik zu verbinden, und die Instrumente zu entwickeln, um sie durchzusetzen und zu kontrollieren. Niemand? Nein, doch, der Europäische Rat hat dies zu verhindern gewusst: es gab nationale Regierungschefs, die das nicht wollten, sie haben gemeinsame fiskalpolitische Rahmenbedingungen in Europa nicht zugelassen, denn sie versprachen sich nationale Vorteile davon, in einer europäischen Binnenkonkurrenz ihr je eigenes Süppchen zu kochen. Und heute, vor dem Scherbenhaufen, den sie angerichtet haben, holen sie erst recht wieder ihre Wähler dort ab, wo der Grund der Krise und nicht ihre Lösung liegt: bei ihren vorgeblichen nationalen Interessen, beim geheuchelten Verständnis für die Wut der je nationalen Steuerzahler!


Man könnte jetzt fragen: Was ist gegen die Verteidigung nationaler Interessen einzuwenden? Dazu nur ein Satz: Es kann, und dazu bräuchte es gar nicht unsere historischen Erfahrungen mit den Auswirkungen des Nationalismus, in grundsätzlichen Menschheitsfragen keine vernünftigen „nationalen Interessen" geben, so wie es etwa auch bei den Menschenrechten keine nationalen Besonderheiten oder Sonderrechte geben kann.
Man könnte jetzt auch die Frage stellen, ob ein nachnationaler Kontinent, der sich immer deutlicher als eine „bloße" Wirtschaftsgemeinschaft zeigt, den Menschen mit ihren vielfältigen Sehnsüchten, Ansprüchen, Hoffnungen und Ideen, die doch alle irgendwo kulturell verwurzelt sind, Heimat und Identität geben kann? Ist das nachnationale Europa nicht bloß ein Europa des Kapitals, das eben seine nationalen Fesseln gesprengt hat, und nicht ein Europa der Menschen und ihrer Kulturen? Ja, das Kapital, das sollte man wieder einmal lesen. Zur Beantwortung dieser Frage eine Minute:


Die Europäische Union war nie eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft, denn sie ging von Anfang an von einer sozialen und gesellschaftlich vernünftigen Idee aus: diesen Kontinent, nach den traumatischen Erfahrungen mit Nationalismus und Krieg, zu befrieden und Freiheit, Rechtszustand und Wohlstand zu gewährleisten. Es ging um gemeinsame Rahmenbedingungen, innerhalb derer keine der Populationen mit ihren verschiedenen Kulturen und Mentalitäten mehr Vorteile für sich gegen andere durchsetzen kann, ohne sich selbst zu schaden. Dies sollte zu Solidarität zwingen und diese auf Dauer gewährleisten. Das war und bleibt eine Idee, die zunächst nicht von Kapitallogik und Verwertungsinteressen abgeleitet ist. Aber die Europäische Union war auch nie bloß ein luftiges utopisches Projekt, denn es war von Anfang an in der ökonomischen Realität geerdet. Das ist ihr Vernunftgrund. Denn die Linken wissen seit Marx, dass die Ökonomie die Basis ist, und die Rechten sagen streng antimarxistisch das selbe: „It´s the economy, stupid!" Ach wenn nur in allen Fragen eine solche Einigkeit bestünde! Das Problem der EU ist also nicht, dass sie in ihrer Basis ein Wirtschaftsprojekt ist – denn es gibt keine andere Basis, und es gibt keine andere Ökonomie, als die, die Menschen für sich beschließen, und die Produktivkräfte werden dafür sorgen, dass sich vieles ändert, worüber noch Einigkeit zu bestehen scheint -, das Problem ist vielmehr, dass die Idee, die dieser Wirtschaftsgemeinschaft zu Grunde liegt, und die das Zukunftsbild, das Ziel, das künftige Selbstverständnis dieser Gemeinschaft sein sollte, in Vergessenheit geriet und von einem Nationalismus verdrängt wird, der durch die Konstruktion der europäischen Union, nämlich durch den Rat, diese Blockade zwischen Europäischer Kommission und Europäischem Parlament, sogar noch befördert wird.
Ich komme ins Gedränge. Es gäbe so viel zu sagen. Ich habe jetzt noch zwei Minuten, um einen Vorschlag zu machen, wie diese Aporie aufzubrechen wäre, dass die europäische Union institutionell eine nachnationale Entwicklung vorantreiben soll, dabei aber nolens volens Nationalismen mitproduziert, die das Projekt immer mehr gefährden.
Ich habe jetzt in der verbleibenden Zeit keine Chance: ich sage Ihnen, notwendig verkürzt, meinen Vorschlag, ohne ihn ausführlich verteidigen zu können, Sie werden ihn als absurd zurückweisen, und sich dadurch wohlig als Pragmatiker und Realisten fühlen, und ich werde einmal sagen können, dass ich es gesagt habe. So ist uns beiden gedient, Ihnen heute, mir morgen!


Das Problem ist eindeutig das Modell der nationalen Demokratie. Irgendwann, hoffentlich bald, wird es einen neuen Jean Monnet geben müssen, der die Kühnheit und die Konsequenz hat, diese Utopie zu betreiben und durchzusetzen: ihre Abschaffung! Die Demokratie, wie wir sie kennen, und die wir seither mehr schlecht als recht eingeübt haben, und die wir zumindest hier in Deutschland, und in Österreich, nicht einmal erkämpft haben, sondern die uns geschenkt wurde, diese Demokratie ist ein Modell des 19. Jahrhunderts zur Organisation von Nationalstaaten. Auch wenn Sie es sich heute nicht vorstellen können, aber wir werden im 21. Jahrhundert das 19. Jahrhundert endlich überwinden müssen – oder wir werden in das 19. Jahrhundert politisch zurückfallen, allerdings am Stand der Produktivkräfte des 21. Jahrhunderts, und das wäre gemeingefährlich!


Es kann auf Dauer kein supranationales Europa auf der Basis nationaler Demokratien geben. Wir müssen Demokratie neu erfinden, wir müssen eine supranationale Demokratie entwickeln, wir glauben bloß, dass das nicht notwendig ist, weil wir ja „unsere Demokratie" haben – und nicht gelernt haben, so wie die Gründerväter Europas in Epochenbrüchen oder über Epochen hinaus zu denken. 
Noch eine Minute! Ich habe eine Frohbotschaft für Sie! Im Grunde ist die Lösung schon im Europäischen Verfassungsvertrag festgeschrieben: in der Formulierung „Europa der Regionen". Die Regionen sind der Reichtum dieses Kontinents, die Nationen aber sind historisch erschöpfte Identitätsphantasien und die notwendig zu überwindende Bedrohung. 
Europa braucht eine wirklich europäische, nicht national beschickte Regierung und eine kompetente Verwaltung, das ist die Kommission, und Europa braucht ein Parlament, bei dem Wahlmodus und Kompetenzen wohl neu diskutiert werden müssen, um einen wirklich europäischen, demokratisch legitimierten Gesetzgeber daraus zu machen, der auch die Kommissare wählt – aber was schnellstmöglich abgeschafft werden muss, ist der Rat, diese Verteidigungsburg des Nationalismus im Inneren des Gefüges des nachnationalen Europas. Utopisch? Ich wollte Ihnen in Erinnerung rufen, dass das Projekt von Anbeginn eine konkrete Utopie war. Und wenn diese Utopie in Trümmern liegt, wird bald auch die Realität in Trümmern liegen, und Sie werden sich dann vor den vor Ihren Augen rauchenden Trümmern schwer tun mit dem historischen Betroffenheitssatz: „Dies soll nie wieder geschehen dürfen!" Denn dann wird er nämlich Höllengelächter auslösen.


Die konsequente Fortsetzung des Europäischen Projekts, also des Friedens- und Wohlstandsprojekts in wachsender Demokratie, kann nur in einer politischen Aufwertung der Regionen bestehen, und einem Zurückdrängen der nationalen Repräsentation, und perspektivisch in einer Abschaffung des Europäischen Rats, dieses Statthalters des Nationalismus in der Union. Die Nationen haben bereits weitgehend Souveränitätsrechte an die Union abgetreten, die Nationen werden absterben, welchen Sinn soll in dieser nachnationalen Entwicklung die Institution des Rats in dem Gefüge der Union haben? Wäre es nicht vernünftiger, gleich zu stoßen, was logisch irgendwann fallen wird? 
Sie müssen sich entscheiden: wollen Sie eintreten für ein demokratisches Europa von frei assoziierten Regionen mit gemeinsamen Rahmenbedingungen, die Rechtssicherheit, Freiheit und sozialen Ausgleich garantieren, oder wollen Sie nur in Sonntagsreden Europaeuropaeuropa sagen und Ihr persönliches Heil in der nationalen Politik suchen? Fühlen Sie sich wirklich groß und stark und wohl in einem Selbstgefühl, das sich dem in nationalen Medien und von nationalen Politikern getrommelten unreflektierten Unsinn verdankt, dass Sie so tüchtig, „die Griechen" aber „faul und korrupt" sind? Sind Sie nicht erschrocken, wie schnell und wie leicht in Deutschland solche gemeingefährlichen nationalistischen Stereotypen wieder hergestellt werden konnten, denen sehr leicht Taten folgen können, für die Deutschland schon einmal schwer und hoffentlich schwer genug bestraft worden ist? Was also wollen Sie? 
Sie werden sich bald entscheiden müssen!


Das waren jetzt zehn Minuten. Neun acht sieben sechs fünf vier drei zwei eins null.
Nun läuft Ihr Countdown, meine Damen und Herren!

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Mit freundlicher Genehmigung des Verfasssers. Die Rede wurde zur Eröffnung des Sanssouci Colloquium am 6. September 2012 in Potsdam gehalten. Die weiteren Reden der Veranstaltung finden Sie HIER!

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Außerdem lesenswert: ÜBER DIE FEIGHEIT DER EUROPÄISCHEN POLITIKER (ROBERT MENASSE, 30.9.2011) nachzulesen auf ZEIT ONLINE!

Über die Feigheit der europäischen Politiker