Pragmatismus als Ideologie

GASTBEITRAG von Jürgen KLUTE, erschienen in DIE ZEIT 39/1999

30.11.2000

Das Schröder/Blair-Papier geht leichtfertig mit politischen Begriffen um

Pragmatismus statt Ideologie - das ist die prägnante Formel, auf die sich die von Schröder und Blair formulierte neue Programmatik der Sozialdemokratie bringen lässt. Die Autoren glauben, den Kern der neuen Mitte - wenn nicht des modernen Menschen schlechthin - mit ihrem Papier Neue Konzepte für veränderte Realitäten erfasst zu haben.

Mit veränderten Realitäten haben wir es tatsächlich zu tun. Allerdings nicht erst seit heute: Mehr als 20 Jahre dauert die Diskussion um die Folgen neuer Technologien und die Zukunft der Arbeit an. Und immerhin schon vor mehr als einem halben Jahrzehnt hat eine Diskussion um Reichtum und Armut in Deutschland begonnen. Von diesen Diskussionen ist in dem Schröder/Blair-Papier allerdings nichts zu lesen.

Eben nicht die beobachtbaren Veränderungen stehen im Mittelpunkt des Schröder/Blair-Papiers, sondern die Begriffe "ideologisch", "pragmatisch".

Ihre Verwendung legt eine bestimmte Interpretation nahe. "Das Verständnis dessen, was ,links' ist, darf nicht ideologisch einengen", heißt es dort.

"Ideologisch" meint demnach eine eingeschränkte Wahrnehmung der Wirklichkeit durch eine bestimmte, in diesem Falle "linke" Brille. "Pragmatisch" soll als Gegenüberstellung zu "ideologisch" offenbar als eine unverzerrte, unmittelbare, von ideologischen Brillen nicht verstellte Wirklichkeitswahrnehmung verstanden werden.

Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist das Papier in diesem Punkt ebenso suggestiv, wie es intellektuell unredlich ist. Aus politischer Sicht ist dieses Verständnis von Pragmatismus, diese ganze Begriffskomposition, gleichwohl opportun (oder, wenn man so will: ganz und gar pragmatisch - in einem eher vulgären Verständnis): Es erhebt die These von einem politisch nicht beeinflussbaren globalen Konkurrenzdruck auf den Standort Deutschland und eines deshalb erforderlichen Sozialabbaus (sprich: bewusster Verarmung eines Teils der Bevölkerung und einer gleichzeitigen unvorstellbaren materiellen Überausstattung eines a nderen Teils der Bevölkerung) zu einem unanfechtbaren Axiom.

Damit muss sich Politik nicht mehr der Frage stellen, wie weit die heutige Konkurrenzgesellschaft Produkt neoliberaler Politik ist, wie weit sie neoliberale Antwort auf technologische Entwicklungen ist - und wie weit sie damit auch politisch wieder umgestaltbar ist. Die Gegenüberstellung "ideologisch"-"pragmatisch" führt also zu einer Immunisierung der Wirtschaft vor dem Anspruch einer politischen Gestaltung eben auch dieses gesellschaftlichen Bereichs. Karl Popper hat Argumentationsmuster wie das beschriebene als Ideologie definiert und heftig kritisiert.

Aber selbst wenn man nicht ganz so unbedarft mit Begriffen umgeht wie das Schröder/Blair-Papier, beinhaltet der Pragmatismus eine gehörige Brisanz.

Pragmatismus als philosophisches Gedankengebäude leitet seinen Wahrheitsbegriff von der Nützlichkeit praktischen Handelns ab. Gerade aus einer sozialdemokratischen Tradition heraus sollte eine solche Ableitung von Wahrheit jedoch mit grundlegender Skepsis betrachtet werden. Denn: Nicht alle Dinge sind für alle Menschen gleich nützlich - also auch nicht gleich wahr -, wie aktuell am Beispiel Shareholder-Value und historisch am Prozess der Industrialisierung zu beobachten ist.

Nimmt die Sozialdemokratie Abschied von den Arbeitern?

So stellt sich also die Frage nach der Wahrheit - und zwar als Frage danach, wem das Schröder/Blair-Papier nützt. Oder anders: Wenn es eine unmittelbare, wertfreie, unverzerrte, unverstellte, objektive Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht gibt - was nimmt das Schröder/Blair-Papier denn dann wahr? In weiten Teilen übernimmt das Papier - gänzlich unkritisch - schlicht die Sicht der Dinge, wie Manager und Lobbyisten transnationaler Unternehmen sie vorgeben.

Das Schröder/Blair-Papier ist nicht nur Ausdruck des von den beiden Regierungschefs offensichtlich gewollten Abschieds der Sozialdemokratie von der Arbeiterschaft. In ihrem Papier machen Schröder und Blair im gleichen Zug in ihren Gesellschaften die Sozialdemokratie zum jeweils nationalen politischen Flügel transnationaler Unternehmen. Während sich zeitgleich in Deutschland die CDU rhetorisch in die Tradition der Arbeiterbewegung einklinkt!

"Modern", der Begriff, der ideologieverdächtig häufig in dem Papier vorkommt, dient in diesem Kontext lediglich der Diskreditierung von Konzepten sozialer Gerechtigkeit, die, zugegebenermaßen, nicht erst von heute sind, sondern durchaus unerfüllte Hoffnungen und Träume älteren Datums darstellen. Einen eigenständigen und qualitativen Inhalt hat der Begriff "modern" im Schröder/Blair-Papier nicht. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass der Begriff "modern" nichts anderes meint als "zeitlich neuer, jünger" - was aber eben nicht zu verwechseln ist mit "qualitativ besser"!

"Es gibt nur moderne oder unmoderne Wirtschaftspolitik", so - wenn man will - ein "Bonmot" von Schröder. Politikfelder wie Sozialpolitik, Umweltpolitik, Entwicklungspolitik et cetera scheint es nach dem Schröder/Blair-Papier weder links noch rechts, noch modern oder unmodern, sondern überhaupt nicht mehr zu geben.

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